Donnerstag, 12. März 2020

Ratten


Hupfdohlen bei der Tanzstunde, das ist natürlich Degas. Detailliert gemalte kleine Mädchen in Tüll, ich kann mir nicht helfen, es hat schon etwas Perverses an sich. Irgendwie fallen diese androgynen Wesen sicher schon unter kiddie porn. Degas nannte die kleinen Tänzerinnen filles-singes (das notiert Edmond de Goncourt in seinem Tagebuch), Äffinnen ist nun nicht unbedingt eine nette Bezeichnung. Da ist Hupfdohlen noch netter. Ludovic Halévy, mit dem Degas befreundet ist, nennt die Tänzerinnen der Oper Ratten.

Sie heißen heute noch so. Mein Sachs-Villatte aus dem Jahre 1909 hat da die Bedeutung Opern-Figurantin (aber auch: unterhaltenes Frauenzimmer). 1966 erschien die Fernsehserie L'Âge heureux nach dem Roman Côté jardin, Mémoires d'un rat von Odette Joyeux. Das Wort rat für die minderjährigen Tänzerinnen taucht schon vor 1840 auf. Da schreibt der Dandy Nestor Roqueplan (der auch einmal Direktor der Oper war): Le vrai Rat, en bon langage, est une petite fille de sept à quatorze ans, élève de la danse, qui porte des souliers usés par d'autres, des châles déteints, des chapeaux couleur de suie, qui sent la fumée de quinquet, a du pain dans ses poches et demande six sous pour acheter des bonbons; le rat fait des trous aux décorations pour voir le spectacle, court au grand galop derrière les toiles de fond et joue aux quatre coins des corridors ; il est censé gagner vingt sous par soirée, mais au moyen des amendes énormes qu'il encourt par ses désordres, il ne touche par mois que huit à dix francs et trente coups de pieds de sa mère.

Roqueplan ist nicht der einzige, der über die petits rats schreibt, auch Balzac erwähnt sie. Und, wie erwähnt, Ludivic Halévy. Seine Bücher Madame et Monsieur Cardinal und Les petits Cardinal (eins davon ist hier im Volltext) sind voll mit kleinen Ballerinas, und teilweise wirken Degas' Bilder wie Illustrationen von Halévys Werk. Was sie auch wohl sind. Was wir so hübsch finden, ist vielleicht nur zynisch. Ein  großer Zyniker ist Degas ja gewesen. Was in seiner Zeit manchen Kunstkritiker dazu bringt, ihn ebenso zynisch abzufertigen.

So zum Beispiel Félix Fénéon: M. Degas poursuit le corps féminin d'une vieille animosité qui ressemble à de la rancune ; il le déshonore d'analogies animales oder zur Rampe de danseuses (Bild): ce bloc irradié en un enchevêtrement de bras et de jambes jette comme l'image d'un dieu hindou épileptique. Zu Félix Fénéon und anderen in dieser Zeit gibt es eine sehr interessante Dissertation von Annika Lamer Die Ästhetik des unschuldigen Auges: Merkmale impressionistischer Wahrnehmung in den Kunstkritiken von Émile Zola, Joris-Karl Huysmans und Félix Fénéon.

Und was wird aus den kleinen rats? Wohl die wenigsten werden die Hauptrolle in Schwanensee bekommen oder berühmt werden wie Fanny Elssler oder Eugenie Fiocre (die Degas ➱malen wird) und sich ihre Kleider bei Charles Frederick Worth kaufen. Die meisten werden in einem Bordell landen wie diese Frauen in Erwartung eines Freiers auf dem Bild von Degas. Bordelle gibt es in dieser Zeit genug in Paris, und ohne Bordelle und Prostitution kommt der Impressionismus nicht aus. Das bewies im letzten Jahr eine Ausstellung im Pariser Musée d’Orsay. Und schon vor Jahren hatte Hollis Clayson ihr Buch Painted Love: Prostitution in French Art of the Impressionist Era (hier zu lesen) vorgelegt.

Dies ist nicht die Welt von Proust, dies sind nicht les jeunes filles en fleurs. Dies sind Arbeiterkinder, die mit sechs und acht Jahren an der Oper anfangen und eine Sechstagewoche haben. Wenn sie in ihrer Pubertät sind, können sie sich durch sexuelle Gefälligkeiten noch etwas hinzuverdienen. Die amerikanische Professorin Lorraine Coons hat in ihrem Aufsatz Artiste or coquette? Les petits rats of the Paris Opera ballet dazu eine Menge zu sagen.

Degas' Mädchen und Frauen bleiben blaß und verhuscht, eine Pastellversion der Wirklichkeit. Nichts Flamboyantes wie Henri Gervex' Bild Rolla. Oder Manets ➱Nana, der Werner Hofmann in Hamburg 1973 eine große Ausstellung widmete. Das daraus entstandene Buch Nana: Mythos und Wirklichkeit kostet bei Amazon Marketplace zwischen 99 Cent und 386 Euro; ich würde das Exemplar für 99 Cent nehmen, aber ich habe das Buch natürlich schon.

Ich mag Degas, der heute vor 99 Jahren starb, überhaupt nicht. Das habe ich schon zum Ausdruck gebracht, als ich vor vier Jahren den Post Edgar Degas schrieb. Es ist dieser widerliche Antisemitismus, der in den 1870er Jahren bei ihm virulent wird. Dies hier sind nicht zwei Herren, die hinter der Bühne der Oper darauf warten, kleine Tanzmädchen zu vernaschen. Die Szenerie stimmt, wir sind in der Oper, beide Herren (Ludovic Halévy und Albert Boulanger-Cave) haben mit der Oper zu tun. Linda Nochlin hat in The Politics of Vision: Essays of Nineteenth Century Art and Society geschrieben: The image is a poignant one. The inwardness of mood and the isolation of the figure of Halevy, silhoutted against the vital brilliance of the yellowish blue-green backdrop, suggest an empathy between the middle-aged artist and his equally middle-aged subject, who leans, with a kind of resigned nonchalance, against his furled umbrella. The gaiety and make-believe of the theater setting only serves as a foil to set off the essential solitude, the sense of worldly weariness, established by Halevy's figure....

The only touch of bright color on the figures is provided by the tiny dab of red at both men's lapels: the ribbon of Legion of Honor, glowing like an ember in the dark, signifying with Degas's customary laconicism the distinction appropraite to members of his intimate circle -- though Degas himself viewed such institutional accolades rather cooly.... No one looking at this sympathetic, indeed empathetic, portrait would surmise that Degas was (or would become) an anti-Semite or that he would become a virulent anti-Dreyfusard; indeed that within ten years, he would pay his last visit to Halevy's home, which had been like his own for many years, and never return, except briefly, on Ludovic's death in 1908, to pay his final respects. Aber stimmt das wirklich mit dem sympathetic, indeed empathetic? Es ist doch eher die Karikatur eines Juden (ebenso wie der Violinist in dem Bild im ersten Absatz), die Degas hier vor die Dekoration stellt.

Die Raumbehandlung mit dem abgeschnittenen Albert Boulanger-Cave hat Degas schon viel früher in diesem Bild der Baumwollhändler in New Orleans (wo er fünf Monate gewesen war) gemalt. Für Christopher Benfey (hier zu lesen) ist dies Bild die Keimzelle für die Raumgestaltung vieler Bilder der kleinen Tänzerinnen.

Ich persönlich habe überhaupt kein Verhältnis zum Ballett. Ich habe einmal Schwanensee in Begleitung einer jungen Dame gesehen, die in jungem Alter Ballett getanzt hatte. Da habe ich höflicherweise nicht von Hupfdohlen geredet. Ratten sind auch selten in diesem Blog. Sie kommen natürlich vor, wenn von Wind in the Willows die Rede ist. Oder bei diesem wunderbaren französischen Karikaturisten.

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