Donnerstag, 30. April 2020

les grandes horizontales


Ein Sieger, ein Besiegter. Der Sieger trägt einen Säbel und hat auch noch eine Pistole umgeschnallt. Sicher ist sicher, bei den Franzosen weiß man ja nie. Der Herr mit den roten Hosen ist der Kaiser von Frankreich, der gerade einen Krieg verloren hat.Verlieren kann er gut, zahlreiche seiner Putschversuche sind fehlgeschlagen, bevor er französischer Präsident wurde.

Am 2. Dezember des Jahre 1852, dem Jahrestag der Kaiserkrönung seines Onkels Napoleon Bonaparte, hatte sich Charles-Louis-Napoleon Bonaparte als Napoleon III zum Kaiser der Franzosen gekrönt. Knapp zwei Jahrzehnte  später sitzt er neben Bismarck nach der Schlacht von Sedan auf der Bank. Da heißt es dann Ab nach Kassel. Zu Hause wird er auch noch abgesetzt, und Wilhelm Busch dichtet Eins, zwei, drei – ich zähl' herum – Der Louis ist Napolium! Ich lasse den Louis heute mal ein wenig draußen vor, er hatte hier schon vor acht Jahren einen Post. Ich kapriziere mich heute einmal auf die Damen, die ihn umgeben. Wie diese Engländerin, die von einem seiner Verwandten begleitet, so elegant auf dem Pferd sitzt.

Nicht nur die Frauen kennt der Louis gut, auch Gefangenschaft und Exil kennt er gut. Wie man einen Krieg verliert, weiß er auch. Das Ergebnis seiner Intervention in Mexiko kennen wir alle, weil wir Robert Aldrichs Film ✺Vera Cruz gesehen haben und dieses Bild von Eduard Manet (das hier schon einen ausführlichen Post hat) im Kopf haben. Vielleicht hat sich der Louis auch von der Fürstin Pauline von Metternich, der besten Freundin seiner Frau (die man in Wien wegen ihrer Klatschsucht Mauline Petternich nennt) in das mexikanische Abenteuer reinquatschen lassen.

Das hier ist die Italienerin Virginia Oldoni, die Contessa di Castiglione, auf jeden Fall sieht sie in der Fernsehserie ✺Ottocento so aus, wenn ✺Virna Lisi sie spielt. Yvonne De Carlo ist allerdings in dem Film ✺La Contessa di Castiglione etwas züchtiger bekleidet. Bei ihrem ersten Auftritt in Paris trug die Contessa ein hauchdünnes Kleid mit aufgenähten Herzchen, die ihre Brustwarzen gerade mal eben bedeckten. Zwischen den Beinen war auch noch ein Stoffherz aufgenäht, das die Schamhaare nicht ganz bedeckte. Was die Kaiserin Eugénie zu dem Satz Das Herz dieser Dame sitzt wohl etwas tief veranlasste.

Frauen machen jetzt Politik. Und Mode. Hier ist die Castiglione mal züchtig bekleidet, von Alessandro Milesi gemalt. Sie wird auf hunderten von Photographien zum ersten Supermodell des 19. Jahrhunderts werden. Der Louis ist fasziniert von ihr, schenkt ihr teuren Schmuck, ein Haus in der Rue de Ponthieu und seidene Unterwäsche mit seinem Monogramm. Sie wird seine Maitresse, und sie zieht ihn in die Machtkämpfe um Italien und in den Sardinischen Krieg hinein. Diese Geschichte hätte ich gerne erzählt, aber sie steht schon in dem Zeitungsartikel Diese Sexfalle trieb Napoleon III. in den Krieg.

Es sind immer wieder die Frauen, die den entscheidungsschwachen Parvenu auf dem Kaiserthron antreiben. Auch seine Gattin Eugénie macht Politik, sie will den Krieg gegen die Preußen. Sie macht nicht nur Politik, sie macht auch Mode. Dies ist die Geburtsstunde der Haute Couture. Auf diesem Bild von Franz-Xaver Winterhalter trägt die Kaiserin Eugénie ein Kleid von Charles Frederick Worth (der hier schon einen Post hat), die Damen um sie herum wahrscheinlich auch alle.

Pauline Metternich (hier auch von Winterhalter gemalt) hat ihre Freundin die Kaiserin natürlich sofort überredet, dass man neuerdings nur noch Worth tragen kann. Das ist jetzt bei Kaiserinnen der letzte Schrei. Auch unsere Sissi hat Kleider von Worth getragen. Allerdings auch die Contessa Castiglione (das nackte Kleid mit den Herzchen war allerdings nicht von ihm), das wird jetzt ein teurer Spaß für den Louis Napoleon, den Victor Hugo als Napoleon le Petit verhöhnt hat, dass er die Garderobe seiner Gattin und seiner Maitressen bezahlen muss.

Die Kleider für die Courtesane Cora Pearl (die da oben im zweiten Absatz auf dem Pferd sitzt), die auch alle von Charles Frederik Worth kommen, braucht der Louis allerdings nicht zu bezahlen. Die bezahlen schon sein Halbbruder Charles Duc de Morny und sein Cousin Napoleon Joseph Charles Paul Bonaparte, deren Geliebte die Engländerin ist. Sie ist in der Welt der Aristokratie und der Demimonde so berühmt, dass sie in das Dictionary of National Biography aufgenommen wurde, und es gibt auch einen Film (Mam'zelle Bonaparte) über sie. Bei Amazon kann man ihre Memoiren kaufen, die den Titel Grand Horizontal haben, die sind zwar nicht von ihr, aber der Titel Grand Horizontal ist wunderbar.

Der Ausdruck kommt natürlich aus dem Französischen. Das zweite Kaiserreich ist die große Zeit der Courtesanen, es ist kein Zufall, dass Balzac einen Roman mit dem Titel Glanz und Elend der Kurtisanen schreibt. Wenn die Damen der Demimonde Glück haben, macht der Louis sie zur Gräfin, wie die Gräfin Valtesse de La Bigne. Einer ihrer Geliebten ist der Maler Henri Gervex, der auch dieses Bild gemalt hat. Die auf dem Bett hingegossene Dame ist allerdings nicht die Contessa, das ist Ellen Andrée, die vielen Malern der Belle Epoque als Modell gedient hat.

Balzac ist nicht der einzige, der über les grandes horizontales schreibt. Da haben wir auch noch Alexandre Dumas mit seinem Roman La dame aux Camelias. Und Emile Zola, der Nana schreibt. Eine Nana hat auch Manet gemalt, Modell stand ihm die Schauspielerin Henriette Hauser, die man Citron nannte. Sie war die Kokotte des niederländischen Prinzen Wilhelm von Oranien-Nassau, den die Presse jetzt nicht mehr Prince de Orange, sondern Prince de Citron nannte. Die Hamburger Kunsthalle besitzt dieses Bild, 1973 stand es im Zentrum der Ausstellung Nana – Mythos und Wirklichkeit, das schöne Katalogbuch von DuMont kann man noch antiquarisch finden.

Die Gräfin Valtesse de La Bigne, die in Zolas Roman Nana eine Rolle spielt, wird Louis Napoleon und das Zweite Kaiserreich überleben. Sie hatte vor ihrem Tod ihre eigene Todesanzeige vorbereitet: Man muss viel oder wenig lieben, gemäß der eigenen Natur, aber schnell, in einem Augenblick, so wie man den Gesang der Vögel liebt der unsere Seele erfüllt und den wir schon nach der letzten Note sofort wieder vergessen. So wie man die roten Schatten der Sonne liebt, die am Horizont verschwindet. Das Ende des Second Empire ist auch das Ende der großen Courtisanen und ihrer Salons, man macht sie für den verlorenen Krieg verantwortlich. Die Herren Worth und Bobergh schließen ihr Atelier in der Rue de la Paix. Das Musée d'Orsay hat der Prostitution in Paris, von den pierreuses, den Bordsteinschwalben, bis zu den grandes horizonztales eine große Ausstellung gewidmet. Die grandes horizontales sind Geschichte, die pierreuses gibt es immer noch.


Lesen Sie auch: Camille in grün, Franz-Xaver Winterhalter, Haute Couture, Kindermädchen, Edouard Manet, Spargel, Berthe Morisot, Frühstück, Thomas Couture, Gustave Caillebotte, Stadtmaler, sansculotte, Julie Récamier, Ratten

Mittwoch, 29. April 2020

Put the Blame on Mame


Heute (17.10.2018) wäre sie hundert Jahre alt geworden, aber sie ist schon seit dreißig Jahren tot. Natürlich war die Hollywood Göttin schon in diesem Blog. Lesen Sie dazu doch GildaRita Hayworth und Zweiter Klasse. Dieses Photo hält den Rekord, das meistverbreite Pin-Up Photo des Zweiten Weltkriegs zu sein. Ich suchte für den heutigen Tag ein schönes Rita Hayworth Gedicht, wurde aber nicht so recht fündig. Da nahm ich Put the Blame on Mame Rita Hayworth in Gilda (1946) von Myra Litton. Und zu diesem Gedicht habe ich natürlich auch die passende Filmszene parat.

There was never quite a dame as hot as Rita in Put the Blame on Mame
Gilda with luscious red locks
And strapless slit dress
We can imagine her while dancing in a state of undress -but I digress
Hair wanton and free expressing sexuality
In ample quantity
Gilda/Rita undulating to jazzy accompaniment in sultry climes
A time capsule of those forties’ times
Gilda grinds to the beat
In real life she liked the bottle and often drank neat
She adorned wartime fighter planes, married Orson Welles
Lived a life insane
Throwing her hair back, quite a gal

Gilda/Rita you were the ultimate femme fatale

Melody


Hast Du die CD wegen der nackten Frau gekauft? fragte der YogiWelche nackte Frau? sagte ich. Ich hatte die CD bei ebay gekauft, da konnte von dem Cover wenig erkennen. Ich ließ mir die CD geben, und tatsächlich: Melody Gardot stand nackt auf der Bühne. Aber hinter der Pose stand mehr als ein Werbegag: For me an album cover is like a movie poster. I wanted an image that was pure femininity, which could please a sculptor. I went through a lot of suffering. But managing to stand up nude on stage carrying a guitar is a victory.

Das mit dem lot of suffering ist nicht so dahingesagt. Und wenn sie in Who will comfort me singt My soul is a weary and beaten down from all of my misery, dann hat das auch etwas mit ihr zu tun. Als sie neunzehn war, hatte sie ein SUV in Philadelphia vom Fahrrad geholt. Der Fahrer flüchtete, Melody Gardot kam für anderthalb Jahre ins Krankenhaus. Einige Ärzte gaben ihr keine Chance, dass sie je wieder gehen könnte: After the accident, I had to reconstruct myself completely. I was taught to see again and to hear with hearing aids. My body had to be completely reprogrammed. And music therapy was at the core of the healing process.

Es war ein langer Weg bis zu diesem Photo. Auf dem wir nicht nur eine nackte Frau, sondern eben auch eine Gitarre sehen. So wird ein Pin Up Photo zu einem Symbol. Sie lernte, die Gitarre zu spielen, weil sie im Krankenhaus auf dem Rücken im Bett liegen musste, das Klavier kam als Instrument nicht in Frage. Musiktherapie war ihre Rettung, die Gitarre wurde ein Therapieinstrument.: Working on songs helped her memory. Playing the guitar was physio for her fingers. Singing taught her to form words. Music didn’t just help her to recover but turned her into a jazzwoman who transcended her broken body through art. Just like the painter Frida Kahlo, after her terrible accident in a bus. Since then, Gardot has released five studio albums filled with a hybrid jazz that mixes borrowings from fado, bossa nova and gospel. And in the blues of her voice there's something of Dusty Springfield or Norah Jones. A saudade that tightens the chest. Das schrieb ein Online Magazin, als die CD Melody Gardot Live in Europe auf den Markt kam.

Ich habe sie zuerst in der Till Brönner Show gehört. Der Trompeter, den die Gabi als Traumschwiegersohn aller Mütter bezeichnete, kennt sie, Melody singt auch auf seiner CD Rio. Melody Gardots CDs werden bei Amazon Marketplace zu Billigpreisen gehandelt. Da wird sie unterschätzt, wie Diana Krall überschätzt wird. Sie ist keine Billie Holiday und keine Sarah Vaughan, aber man kann sie gut hören. Nachts, wenn man nicht gerade telephoniert.

Dienstag, 28. April 2020

Lady Chatterley


Der Herr mit dem Bowler in der Mitte liest ein gefährliches Buch, die Dame neben ihm weiß nicht so ganz, was sie davon halten soll. Ein berühmt gewordener Prozess im Jahre 1960 hatte gerade ergeben, dass die Penguin Ausgabe von Lady Chatterley's Lover (der dritten Version, die Lawrence geschrieben hatte) nicht verbotenen werden konnte. Allen Lanes Penguin Verlag verkaufte am ersten Tag des Erscheinens von Lady Chatterley's Lover 200.000 Exemplare und druckte gleich 300.000 nach. Mehr als drei Millionen werden es in kürzester Zeit sein. Für viele Kulturkritiker war das der Beginn der permissive society. Oder wie Philip Larkin in seinem Gedicht Annus Mirabilis so schön dichtete:

Sexual intercourse began
In nineteen sixty-three
(which was rather late for me) -
Between the end of the "Chatterley" ban
And the Beatles' first LP
.

Der Penguin Band ist gerade wieder Gegenstand einer juristischen Auseinandersetzung gewesen. Nicht das Buch, das bei mir im Regal steht, sondern dieses Exemplar hier, das der Richter Sir Laurence Byrne im Prozess verwendet hatte. Seine Gattin hatte dafür ein hübsches Damasttäschchen genäht, damit das Ganze nicht so zerfleddert aussah. Und sie hatte in dem Buch auch die schmutzigen Stellen angestrichen, damit ihr Gatte die schneller finden konnte. Wahrscheinlich wirkte bei ihr noch nach, was ein englischer Rezensent beim Erscheinen der Erstausgabe 1928 in Frankreich schrieb: the most evil outpouring that has ever besmirched the literature of our country. The sewers of French pornography would be dragged in vain to find a parallel in beastliness . . . Unfortunately for literature as for himself, Mr. Lawrence has a diseased mind.

Das Buch kam jetzt bei Sotheby's zur Auktion, und man konnte auf der Seite der Regierung lesen: Arts Minister Michael Ellis has ordered a temporary export bar on the copy of Lady Chatterley’s Lover used by judge during obscenity trial
. Der Amerikaner, der bei Sotheby's bereit war, dafür 56.250 £ auf den Tisch zu legen, ging wegen des Exportverbots leer aus. Jetzt besitzt die Juristische Fakultät der Universität Bristol das Buch. Mit dem Damasttäschchen und den Annotationen von Lady Dorothy.

56.250 £ sind eine Menge Geld für ein Paperback, in dem die schmuddeligen Stellen markiert sind. Also Stellen wie diese, wo der Wildhüter Mellors zu Lady Constance sagt:  Tha's got such a nice tail on thee," he said, in the throaty caressive dialect. "Tha's got the nicest arse of anybody. It's the nicest, nicest woman's arse as is! An' ivery bit of it is woman, woman sure as nuts. Tha'rt not one o' them button-arsed lasses as should be lads, are ter! Tha's got a real soft sloping bottom on thee, as a man loves in 'is guts. It's a bottom as could hold the world up, it is!"

Ich hatte in dem Post Fernsehen auf den französischen Film ✺Lady Chatterley von 2006 hingewiesen, und arte hat dankenswerterweise anschließend noch eine Dokumentation mit dem Titel ✺Der Prozess der Lady Chatterley: Orgasmus und Klassenkampf in einem englischen Garten gesendet, die noch bis zum nächsten Jahr abrufbar ist. Der Roman von D.H. Lawrence ist immer wieder verfilmt worden, zuerst 1955 von ✺Marc Allégret, die neueste Verfilmung ist aus dem Jahre ✺2017 von der BBC. 1981 gab es eine Version von ✺Just Jaeckin, der ja wie seine seine Hauptdarstellerin Sylvia Kristel eher im Softporno Geschäft zu Hause war, also bei solchen Filmen, die in dem Post Patti d'Arbanville erwähnt werden.

Es gibt auch noch einige Pornofilme, die den Namen Chatterley im Titel haben, wie zum Beispiel Lady Chatterley's Ghost oder Lady Chatterley Stories, aber das lassen wir lieber weg. Dass der Roman immer wieder auf seine Sexszenen reduziert wird, ist inzwischen zu einer Plattitüde geworden. Dafür braucht man ein nacktes Playboy Häschen wie Jessie Lunderby in Lady Chatterley's Ghost nun wirklich nicht. Es ging D.H. Lawrence, der ebenso wie seine Romanfigur Sir Clifford Chatterley impotent war, schon um Sex, aber so etwas wie hier hatte er sicher nicht gemeint. Doing dirt on sex, it is the crime of our times, because what we need is tenderness towards the body, towards sex, we need tender-hearted fucking, hat er geschrieben.

Eine interessante Verfilmung des Romans bot die vierteilige ✺BBC Serie von Ken Russell, der auch Lawrences Roman ✺Women in Love verfilmt hatte. Aber Joely Richardson blieb als Lady zu ladylike und zu kalt, wie letztlich auch Marina Hands in dem französischen Film, den arte gerade gesendet hat, der Film ertrank in schönen Bildern. Dass im Roman einmal We fucked a flame into being gesagt wird, scheint angesichts dieser Bilder kaum glaublich. Das Wort fuck kommt in dem Roman übrigens nur 26 Mal vor.

Der Chatterley Prozess im Jahre 1960 war der Beginn vom Ende der englischen Zensur, der mit dem Theatres Act von 1968 war es mit der Macht des Lord Chamberlain als Zensurinstanz vorbei. Allerdings gab es 1964 schon wieder einen Prozess um einen englischen Roman, diesmal war John Clelands Roman Fanny Hill aus dem Jahre 1748 dran.

Vielleicht sollte der Obszönitätsprozeß auch nur von einer wirklichen Obszönität ablenken, damit meine ich nicht, dass Boris Johnson in dem Jahr geboren wurde. Sondern die Liebesaffaire, die diese junge Dame, die in dem Absatz da oben neben der Kopie eines Arne Jacobsen Stuhls sitzt, mit dem Verteidigungsminister hat. Das ist natürlich Christine Keeler, die hier schon einen ausführlichen Post hat. Und den Film ✺Scandal aus dem Jahre 1989, wo Christine Keeler von Joanne Whalley gespielt wird, biete ich heute auch noch an.

Ich bleibe mal im Jahr 1964, da erschien in dem amerikanischen Nudistenmagazin Nude Living dieses Photo als Illustration zu einem Artikel, der In Defense of the Pleasures of the Body hieß. Kunst? Pornographie? Können wir beim Anblick nackter Frauen an andere Kategorien denken? D.H. Lawrence hasste Pornographie. Er hasste auch James Joyces UlyssesThe last part of [Ulysses] is the dirtiest, most indecent, obscene thing ever written. . . . This Ulysses muck is more disgusting than Casanova. I must show that it can be done without muck. Er hat wohl richtig erkannt, dass in Molly Blooms Monolog mehr Sex steckt, als in seinem ganzen Chatterley Roman. Die junge Dame mit dem schönen Körper hier ist übrigens Marli Renfro, die vier Jahre zuvor als Double für Janet Leigh in Psycho unter der Dusche stand.

“I don’t care!” she said stubbornly to Hilda at bedtime. “I know the penis is the most godly part of a man. . . . I know it is the penis which connects us with the stars and the sea and everything. It is the penis which touches the planets, and makes us feel their special light. I know it. I know it was the penis which really put the evening stars into my inside self. I used to look at the evening star, and think how lovely and wonderful it was. But now it’s in me as well as outside me, and I need hardly look at it. I am it. I don’t care what you say, it was the penis gave it me.”

Das steht nicht in Lady Chatterley's Lover, das die dritte Version des Romans ist, die Lawrence schrieb. Dies Zitat findet sich in der zweiten Version, die John Thomas and Lady Jane heißt (die auch die Vorlage für den französischen Film von 2006 war). Viele Kritiker halten John Thomas and Lady Jane für das bessere Buch: The Lady C. and her lover of the second version are also less romantic and more believable, with Connie Chatterley less sophisticated and intellectual, and her gamekeeper less a matinee idol in quickly removable corduroy breeches. None of the three versions make a great novel out of Lawrence’s materials, but a reading of the second suggests that one of Lawrence’s great literary mistakes was to expend much of the waning energies of his last years on the third.



Ours is essentially a tragic age, so we refuse to take it tragically. The cataclysm has happened, we are among the ruins, we start to build up new little habitats, to have new little hopes. It is rather hard work: there is now no smooth road into the future: but we go round, or scramble over the obstacles. We've got to live, no matter how many skies have fallen. So beginnt der Roman, der auch ein Gesellschaftsroman sein will, aber das Thema ist bei Anthony Powell besser aufgehoben als bei Lawrence. Sir Clifford Chatterley (rather supercilious and contemptuous of anyone not in his own class. He stood his ground, without any attempt at conciliation) kommt schwerverletzt aus dem Krieg zurück, aber vom Schrecken des Krieges dringt nichts in diesen Roman. Gegen Goodbye to All That von Robert Graves sind die Kriegserinnerungen von Sir Clifford ärmlich.

Was bleibt von Lady Chatterley's Lover übrig, wenn wir den ganzen schwülstigen Sex streichen, der bei Lawrence schon zu einer Art Religion geworden ist? Nicht viel, es ist kein guter Roman. Er kann nicht mit den beiden wirklich großen Romanen konkurrieren, die in den zwanziger Jahren auf den Markt kommen: Ulysses und A la recherche du temps perdu. Der Literaturkritiker F.R. Leavis empfahl, statt des Romans Lawrences Essay Pornography and Obscenity zu lesen. Ich mag Thomas Hardy, den Lawrence immer wieder beklaute, ich mag Joseph Conrad, nicht nur, weil er über Lawrence sagte: he had started well, but had gone wrong. Filth. Nothing but obscenities. Auf dem Cover des Penguin Classics Band von Lady Chatterley's Lover steht der Satz No one ever wrote better about the power struggles of sex and love. Der Satz ist von Doris Lessing, die auch ein sehr lesenswertes Vorwort verfasst hat.

Ich mag Hardy und Conrad und viele andere Romanautoren, aber D.H. Lawrence habe ich nie gemocht. Und dennoch kann ich ein Buch von ihm empfehlen. Es heißt Studies in Classic American Literature (der Link führt zum Volltext), es kommen keine Wildhüter und keine nackten sexuell frustrierten Ladies drin vor, dies sind Essays zur amerikanischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Buch ist 1992 unter dem Titel Der Untergang der Pequod: Studien zur klassischen amerikanischen Literatur auch einmal auf Deutsch erschienen. Es gehört mit zum Besten, was über die amerikanische Literatur geschrieben wurde.


Das kleine Sternchen ✺ im Text zeigt an, dass Sie dort einen Film sehen können.

Dienstag, 21. April 2020

Marion Zimmer Bradley


Die hatte ich vollständig vergessen. Dabei ist sie erst vor zwölf Jahren gestorben. Aber vor dreißig Jahren hatte sie ihre große Zeit. Weil sie die Artus-Geschichte wieder recycelt hatte. Diesmal aus der Sicht einer Frau, das galt als ganz große Leistung. Aber worin sollte die Leistung liegen? Hatte man Rosemary Sutcliff schon völlig vergessen? Verändert sich die Welt von Camelot, wenn sie nicht von T.H. White erzählt wird? Aber alle Feministinnen - auch eine neue Erscheinung der damaligen Zeit - fuhren voll auf Marion Zimmer Bradley ab. Da durfte man kein böses Wort sagen. Irgendwann wurde es aber auch den letzten (und der letzten) klar, dass es hier keine Erneuerung der Welt von Camelot und des Artusromans aus weiblicher Perspektive gab, sondern dass hier schlicht und einfach eine amerikanische Bestsellerautorin ein altes Strickmuster neu entdeckt hatte, um viel, viel Geld zu machen.

Hollywood hatte das Thema Camelot auch damals entdeckt, die Zauberformel des telling it again and again besitzen nicht nur Schriftsteller. Zur Zeit von Kennedy, dessen Hofhaltung damals auch als Camelot on the Potomac bezeichnet wurde, hatte man den Stoff als Musical präsentiert. Aber wenig später hatte Richard Lester mit Robin and Marian schon liebevoll ironisch Abschied von dieser Märchenwelt genommen hatte. Was für Sean Connery, den Robin Hood im Rentenalter lediglich der Start für eine neue Karriere in einem neuen Genre war: HighlanderRobin Hood: Prince of Thieves sollten noch kommen. Und dann der letzte Schrott namens Der Erste Ritter.

Zwei Jahre vor The Mists of Avalon kam John Boormans Excalibur in die Kinos. Blechrüstungen und brachiale Taten in Breitwand, viel Blut, manche schöne Bilder. It tries overhard to be simultaneously critical and credulous, magical and earthy, inspiring and entertaining, urteilte damals die Sunday Times. Und dann kamen dreißig Jahre nur noch Filme, die alles von Camelot bis Sherwood Forest verwursteten. Sogar vor dem altenglischen Beowulfslied machte Hollywood nicht Halt und offerierte den Kinozuschauern Der 13te Krieger und Beowulf, beides in einem Jahr. Ich weiß nicht, ob die Verkaufszahlen des altenglischen Beowulf daraufhin gestiegen sind (beide Filme waren übrigens ein Flop), aber wenn ich die Sprache nicht schon beherrschte, würde ich lieber noch einmal Altenglisch lernen, als mir einen dieser Filme noch einmal anzusehen. Wenn man die neunziger Jahre mit zwei Robin Hood Verfilmungen (John Irvin und Kevin  Reynolds) begonnen hat, dann muss man sie auch mit zwei Beowulf Verfilmungen beenden. Das ist nur logisch.

Was die Engländer Arthurian Romance nennen, gehört im Mittelalter zum Größten, was die europäische Literatur hervorbringt, von Chrétien de Troyes bis Gottfried von Straßburg, Hartmann von Aue bis Wolfram von Eschenbach. Aber offensichtlich endet das Ganze nicht Jahrhunderte später mit Le Morte Darthur von Sir Thomas Malory. Gut, es gibt einige Jahrhunderte Pause, aber das 19. Jahrhundert öffnet dann wieder mit Sir Walter Scott und Alfred Lord Tennyson die alte Schatztruhe. Oder sollte man sagen: den Giftschrank? Und es hat ja auch nichts genützt, dass Mark Twain in A Connecticut Yankee in King Arthur's Court (oder diesem wunderbaren Zeitungsartikel) das Ganze lächerlich gemacht hat.

Was Hollywood nicht davon abhielt, A Connecticut Yankee in King Arthur's Court dreimal (1920, 1931 und 1949) zu verfilmen, bevor sich Whoopi Goldberg darüber hermachte. Die Sache mit den Rittern und der Tafelrunde ist schon ein zählebiger Stoff. Sie kann sich in die Disney Studios verirren, in die Comics abwandern (Hal Fosters Prince Valiant) und unbeschadet aus ihnen nach Hollywood zurückkehren. Europas Antwort, Monty Python and the Holy Grail einmal ausgenommen, waren zwei seltsame französische Filme, Bressons Lancelot du Lac und Rohmers Perceval le Galloisdie beide keine Kassenerfolge waren. Im Gegensatz zu Boormans Excalibur, der stilbildend für eine ganze Generation von sword & sorcery Filmen war und eine Tsunamiwelle von neuen Artusfilmen bewirkte. Goethes kleines Gedicht, in dem er bewundert, dass Amerika keine verfallenen Schlösser hat und im Innern zu lebendiger Zeit nicht durch unnützes Erinnern und vergeblichen Streit gestört wird, ist ja ganz nett. Aber die Amerikaner wollen offensichtlich unnützes Erinnern und Ritter in Weißblech. Oder wollen es dem Rest der Welt verkaufen. Man kann diese Geschichten ja immer wieder erzählen, weil sie (wie Rosemary Sutcliff sagte) Geschichten for children of all ages from eight to eighty-eight sind.

Die Grabbelkästen von Buchhandlungen und Modernen Antiquariaten sind soll von Ritterromanen von Autoren, von denen ich noch nie gehört habe. Lassen Sie die Romane da liegen, selbst wenn sie Die Nebel von Avalon heißen. Kehren wir zurück zu den wirklichen Quellen. Mein Lesetip wäre das Mabinogion. Gibt es auch im Internet, aber das ist nichts gegen die gute alte Buchform. Und über den Rest der Artusepik (oben der Anfang von Wolframs Parzifal), die wirklich lesenswerte Literatur, reden wir ein andermal.

Montag, 20. April 2020

Ma nuit chez Maud


Wenn wir mit Jean-Louis Trintignant in einem aufgemotzten Ford Mustang in Regen und Schnee fahren und die Scheibenwischer zur Filmmusik von Francis Lai tanzen, dann sind wir in einem Film von Claude Lelouch. Der Film heißt Un homme et une femme, und wir wissen, alles wird gut. Wenn wir ohne Trintignant in einem Film von Lelouch in einem Auto sitzen und morgens um halb sechs durch Paris brettern und keine rote Ampel beachten, dann gibt es auch keine plüschige Filmmusik von Francis Lai. Dann gibt es als Soundtrack entweder einen Ferrarimotor oder Snow Patrols Open your eyes. Und Lelouch hat danach keinen Führerschein mehr. Wenn wir aber mit Trintignant in einem völlig unspektakulären Renault R16 im Schnee durch die Auvergne fahren (da wo Hölderlin im Winter 1802 zu Fuß gewandert war), und wenn wir uns auch nicht mehr an die Filmmusik erinnern können, dann sind wir in der Welt von Eric Rohmer.

Ma nuit chez Maud war 1969 bei Kritik und Publikum ein großer Erfolg. Das ist einigermaßen erstaunlich, denn es gibt wenige Filme, die so wenig Handlung haben und in denen so viel über Pascal diskutiert wird. Trintignant erhält in Cannes einen Preis, aber nicht für seine Rolle in dem Rohmer Film, sondern für seine Rolle in Costa-Gavras' Film Z. Der autoverrückte Trintignant, der am liebsten seinem Onkel Maurice als Rennfahrer nachgefolgt wäre, spielt hier einen Ingenieur, der für die Firma Michelin in Clermont-Ferrand arbeitet. Er ist erst seit wenigen Monaten in Frankreich, vorher war er lange in Kanada und Südamerika, er kennt kaum jemanden in Clermont-Ferrand. Er trifft Weihnachten seinen alten Freund Vidal, einen überzeugten Marxisten, der jetzt Philosophieprofessor ist.

Und er sieht in der Christmette, wohin es ihn als überzeugten Katholiken zieht, die schöne blonde Françoise, gespielt von Marie-Christine Barrault. Vidal nimmt ihn zu einer alten Freundin namens Maud, gespielt von Françoise Fabian, mit. Dort verbringt unser schüchterner Junggeselle die Nacht, der R16 ist eingeschneit. Es gibt keinen Sex, man redet die ganze Nacht. Das wäre bei Lelouch definitiv anders gewesen. Am nächsten Morgen versucht sich Trintignant Françoise Fabian zu nähern, wenn sie aus der Dusche kommt, aber sie weist ihn ab: J'aime bien les gens qui savent ce qu'ils veulent. Trintignant begehrt sie, und wer hätte das im Publikum damals nicht getan? Aber er wird die Blondine heiraten. Am Ende des Filmes treffen sich alle zufällig fünf Jahre später einmal kurz am Strand eines Seebades. Das ist Deine Frau, ich hätte es wissen sollen, sagt sie. Ich habe nie über sie geredet, sagt Trintignant: Mais je ne vous ai jamais parlé d'elle. Und sie entgegnet Et comment! De votre fiancée blonde, catholique. J'ai bonne mémoire, vous savez. Frauen haben in solchen Fragen nicht nur ein gutes Gedächtnis, Frauen können auch jeden Subtext lesen, wenn eine Nacht im Schnee nur über Pascal und Moral geredet wird. Françoise Fabian spielt eine emanzipierte Frau, Trintignant ist letztlich ein nerd (auch wenn er einen wahnsinnig eleganten Flanellzweireiher mit engen Hosen anhat).

Der Film öffnet die Türen für noch längere filmische Diskussionen, wie in My dinner with Andre. Ein begehrenswerte dunkelhaarige Frau, eine kleine Blonde, bei der sich Trintignant sicher fühlt: Avec vous, je me sens très bien. Das ist die Kombination für Kolportageromane, Leslie A. Fiedler hatte wenig zuvor sein epochales Werk Love and Death in the American Novel geschrieben, in dem dieser Gegensatz immer wieder vorkommt. Aber Rohmer entgeht solchen trivialen Fallen, dieser Film ist eine seiner Moralischen Geschichten. Obgleich man keine Moral mitnehmen kann, wenn das Licht im Kino wieder angeht. Die Kritiker in Cannes fühlten sich an Jean Renoirs La Règle du Jeu erinnert, sahen hier das Gegenteil zu den Filmen von Bresson oder verglichen Rohmer gar mit Flaubert

Alle lobten die Schauspielkunst von Trintignant und Fabian. Und alle mussten expressis verbis oder knurrend zwischen den Zeilen zugeben, dass hier ein Regisseur herangereift war, der ein ganz anderes Kino machte. Eigensinnig, immer seinen eigenen Weg gegangen ist. Den Flanellanzug von Trintignant fand ich damals toll. Françoise Fabian auch. Vom Film habe ich wenig verstanden. Bis mir ein Freund das Drehbuch (L'Avant-Scène n°. 98) geschenkt hat, das habe ich gelesen und wieder gelesen. Dann habe ich Pascal gelesen. Ich weiß immer noch nicht, ob ich den Film verstehe. Ich habe viele Filme von Rohmer gesehen, und wenn ich auch vieles nicht verstehe und mich vieles auch nervt, dann muss man natürlich auch sagen, dass ein Rohmer Film meistens schon wegen der schönen Frauen lohnt. Denn das ist die Kunst des Kinos, hat sein Kollege Truffaut gesagt, Filme zu drehen, in denen schöne Frauen schöne Dinge tun.

Eric Rohmer ist gestern beinahe neunzigjährig in Paris gestorben. Wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen Stil hätte, würden sie jetzt alle seine Filme zeigen.

Lesen Sie auch: Jean-Louis Trintignant. Den ganzen Film können Sie hier sehen.

Julie Récamier


Die Franzosen sind dem weiblichen Genius wenigstens minder abhold als die Deutschen. Diese Eigenschaft beweist, daß ihre Bildung harmonischer ist als die unsers Volks, und daß sie größern Nationalstolz besitzen als unsere werthen Landsleute; denn der Franzose liebt alles, was den französischen Namen verherrlicht. Ich glaube nicht, daß jemals eine Juliette Récamier in Deutschland aufblühen werde, sowenig wie es in jetziger Zeit in Frankreich geschehen könnte; denn der Sinn für eine Größe, wie die ihrige, ist verschwunden, wenn er sich auch noch bei Einzelnen findet. Schreibt Helmina von Chézy in ihren Erinnerungen.

Und sie hat natürlich Recht, wir haben keine Salonière, die sich mit Jeanne Françoise Julie Adélaïde Bernard, besser bekannt als Madame Récamier (die heute vor 235 Jahren geboren wurde) vergleichen könnte. Obgleich sich die Damen im Spree-Athen natürlich darum bemühen, auch eine merveilleuse zu sein. Und nicht nur die französische Empire Mode nachzuahmen, sondern möglichst auch einen Salon zu haben. Kriegen sie auch, wie uns zum Beispiel Günther de Bruyn in Als Poesie gut: Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807 zeigt, halbwegs hin. Allerdings werden keine Möbelstücke nach den Berliner Salonièren benannt.

Wenn ich mal eben für einen Augenblick abschweifen darf: ein Freund von mir versuchte vor Jahrzehnten zusammen mit seiner Gattin diese schöne Tradition eines Salons in einer großen Altbauwohnung durch einen jour fixe wieder zu beleben. Aber das Ganze schlief nach ein, zwei Jahren wieder ein. An den Möbeln lag es nicht, es gab zwar keine Récamière, aber genügend stilvolle alte Möbel. Leider fehlte irgendwie der gewünschte intellektuelle Austausch. Die Professoren von der Kunsthochschule diskutierten nicht über Kunst, sie zogen sich in eine Wohnzimmerecke zurück und spielten bis in die Nacht Skat.

Die Lehrer klagten über die Dummheit der Schüler, die Hochschullehrer klagten über die Dummheit der Kollegen. Gott erschuf den Professor, der Teufel erschuf den Kollegen. Nur bei den Mettbrötchen und dem Bier in der Küche kam manchmal so etwas wie ein niveauvolles Gespräch auf. Dabei war die ganze Idee ja gut, nur war der Zeitpunkt offensichtlich nicht geeignet. Die 68er waren müde. Alle Gäste des Salons schienen in der midlife crisis zu sein, viele waren wegen einer Ehekrise in Therapie. Es war statt eines schöngeistigen Salons die trivialisierte Form eines John Updike Romans geworden. Dennoch denke ich mit einer gewissen Nostalgie daran zurück. Wenn man bedenkt, dass dies damals vielleicht die Crème de la Crème des Ortes war: was hätte werden können - und warum wurde es nur so wenig? Gut, manche Diskussionen waren oberhalb des Niveaus der Universität, aber dazu gehörte nicht viel. Es kann natürlich sein, dass es kein Äquivalent für eine Madame Récamier oder eine Madame Tallien (Bild) gab. Aber vielleicht gab es in den berühmten Salons in Paris und Berlin ja damals auch nur Klatsch und Tratsch.

Vielleicht ist das, was uns Eduard Gans aus dem Salon der Mme Récamier zu berichten wusste, auch nur eine schöne home story gewesen? Irgendwie klingt mir da die Berlinerin Elise von Hohenhausen ehrlicher: Eine geistige Gemeinschaft fand in Berlin statt, wie sie wohl in wenigen Städten gefunden wird. Geistreiche Familien, auch wohl einzelne Damen, hielten an bestimmten Wochentagen Versammlungen, die auf's Lebhafteste an die Salons der Du Deffant, L'Espinasse, Recamiér u. A. m. erinnerten. Man achtete nicht darauf, ob man eine oder drei Treppen steigen mußte, ob es hell oder dämmernd im Zimmer war; Alles was man verlangte, war ein warmer Ofen und eine Tasse Thee; die Tasse selbst mochte von chinesischem Porzellan oder von Töpferwaare seyn. Dieses Detail mit der Töpferware hat etwas Authentisches.

Es gibt noch eine andere Verbindung zwischen Paris und Berlin als die der Nachahmung französischer Mode und der Pariser Salons. Gertrude Aretz erzählt in Berühmte Frauen der WeltgeschichteAls das Kaiserreich errichtet wurde, versuchte der Polizeiminister Fouché, die Récamiers für den neuen Hof zu gewinnen. Er bot Juliette an, Ehrendame am Hofe Napoleons zu werden. Juliette Récamier lehnte jedoch ab und geriet nach und nach in den Kreis der Opposition, die sich um Frau von Staël geschart hatte. Als ihr Gatte grosse finanzielle Verluste erlitt, zog sie sich eine Zeitlang auf das Schloss ihrer Freundin nach Coppet zurück. Dort lernte sie den Prinzen August von Preussen kennen, der sich sterblich in sie verliebte. Eine Zeitlang trug sie sich mit der Absicht, diesen Neffen des Grossen Friedrich zu heiraten. Ob sie wirklich diese Absicht hatte, wissen wir nicht. Aber der August, der hätte sie schon gerne geheiratet. Sie hat ihm das Bild geschenkt (oder geliehen, das ist nie so ganz klar geworden), das wir hier sehen: Ich bin nun endlich wieder im Besitz Ihrers Porträts, das ich mit brennender Ungeduld so lange erwartet habe: Wieviele süße Erinnerungen und wieviel Bedauern, so weit vom Original entfernt zu sein, fanden sich in meinem Herzen, als ich es wiedersah! schreibt ihr der Prinz August aus Berlin.

Und da steht er nun - von Franz Krüger gemalt - breit und bräsig im Salon vor dem Portrait der schönsten Frau Frankreichs, gemalt vom Baron Gérard. Als Franz Krüger den Preußenprinzen mit der fernen Geliebten an der Wand malt, konnte Mme Récamier das Bild eh nicht mehr gebrauchen. Sie war gerade ins Kloster gezogen. Sie ist nicht aus Liebeskummer eine Nonne geworden, nein, die L'Abbaye-aux-Bois in der Rue de Sèvres bot verarmten Damen der feinen Gesellschaft preiswerten Wohnraum. Madame war pleite. Da hatte es ihre Konkurrentin um den ersten Platz in der Gesellschaft, Madame Tallien (die Notre-Dame de Thermidor), bedeutend besser getroffen. Arsène Houssaye hat bösartig von Mme Récamier als eine jener Neugriechinnen, die sich halb nackt, aber von ihrer Schamhaftigkeit bekleidet, aus den Ruinen eines blutigen Pompeji erhoben gesprochen. Man kann das anders formulieren, die Kostümhistorikerin Aileen Ribeiro erwähnt sie im Zusammenhang mit der raffish demi-mondaine society thrown up by the Directory. Man ist schnell nach oben gekommen, jetzt fällt man wieder. Das Rad der Fortuna dreht sich zu Lebzeiten Napoleons (der Julie Récamier nicht ausstehen konnte) etwas schneller als sonst.

Ganz so schlimm kann es im übrigen in den Räumen der Abtei in der Rue de Sèvres nicht gewesen sein, wie das Gemälde von Gérard (oben) zeigt. Das beinahe zeitgleich mit Franz Krügers Bild vom Prinzen August gemalt wurde. Madame hat ihre geliebte Harfe, ihr Piano und ein Regal voller Bücher retten können (hier ein Bild ihres Bettes). Und da sitzt sie wieder, wie auch schon auf dem Bild von David, stereotyp in ihrem weißen Hemdblusenkleid, dieser Mode à la Grecque. Die angeblich die neue Volkstracht sein soll, aber natürlich Haute Couture und unbezahlbar teuer ist.

Und sie empfängt auch hier ihren Kreis von Bewunderern, hat auch hier noch ihre Hofberichterstatter. Wie zum Beispiel Chateaubriand (hier auf einem Bild von Girodet), der angeblich ihr Geliebter ist. Der über die neue Wohnung schreibt:  La chambre à coucher était ornée d’une bibliothèque, d’une harpe, d’un piano, du portrait de Madame de Staël et d’une vue de Coppet au clair de lune. Sur les fenêtres étaient des pots de fleurs. […] La plongée des fenêtres était sur le jardin de l’abbaye, dans la corbeille verdoyante duquel tournoyaient des religieuses et couraient des pensionnaires. La cime d’un acacia arrivait à la hauteur de l’œil. Des clochers pointus coupaient le ciel et l’on apercevait à l’horizon les collines de Sèvres. Le soleil couchant dorait le tableau et entrait par les fenêtres ouvertes. Madame Récamier était à son piano ; l’Angelus tintait ; les sons de la cloche, qui semblait pleurer le jour qui se mourrait : « il giorno pianger che si muore », se mêlaient aux derniers accents de l’invocation à la nuit, du Roméo et Juliette de Steibelt. Quelques oiseaux se venaient coucher dans les jalousies relevées de la fenêtre. Je rejoignais au loin le silence et la solitude, par-dessus le tumulte et le bruit d’une grande cité. Texte wie diese werden heute immer noch geschrieben, solches Gesülze stirbt nicht aus. Vor allem nicht in der demi-monde.

Nach dem Tod von August hat Julie Récamier das Bild übrigens zurück bekommen. Aber sie konnte sich nicht mehr darauf erkennen. Sie war inzwischen erblindet. Hätte etwas aus dieser amourösen Verbindung von Paris und Berlin werden können? Die Récamier hatte ja eine Vielzahl von Liebschaften, aber das war alles wohl eher: nur gucken, nicht anfassen! Sie war eine Salonière, keine demi-mondaine. Man muss sich abgrenzen von der Bohème, also stürzt man sich auf die Kultur. Freilich treten hier an Madame Recamier auch andre als rein geistige Interessen heran; unter den Gästen der Frau von Stael befand sich der Prinz August von Preußen, der eine heftige Leidenschaft für sie faßte und ihr den Antrag machte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen und ihm ihre Hand zu reichen. Sie erwiderte seine Gefühle nicht, wie denn ihre gleichmäßige Schönheit nie von einer Neigung bewegt zu sein scheint, aber sie war durch seine Ergebenheit gerührt. Das konnte man 1859 in der Zeitschrift Die Grenzboten lesen. Ach ja, die Französinnen - es ist immer das gleiche:

L'amour est enfant de Bohême
Il n'a jamais, jamais connu de loi
Si tu ne m'aimes pas, je t'aime
Si je t'aime, prends garde à toi !
Si tu ne m’aimes pas
Si tu ne m’aimes pas, je t’aime !
Mais, si je t’aime
Si je t’aime, prends garde à toi !

Die Lettres du prince Auguste de Prusse 1807 à 1843 sind 1976 in der Zeitschrift Francia: Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte (Seite 434 -579) mit einer Einleitung von Alfred W. Hein herausgegeben worden.

Nigella Lawson


Sie hätte ja Dosen mit Katzenfutter aufmachen und anrühren können, die englische Öffentlichkeit hätte sie auch geliebt. Men love her because they want to be with her, Women love her because they want to be her, schrieb der Guardian. Sie brachte Sex ins Kochstudio, da können die Fernsehköche von Jamie Oliver bis Tim Mälzer nicht konkurrieren. Die sind ja neuerdings überall im Fernsehen, seit den Tagen von Clemens Wilmenroth hat sich auf der Mattscheibe einiges getan. Nur fachmännisch die Zutaten erklären reicht nicht, das Publikum will mehr. Manche sind witzig, selbst wenn sie nicht kochen könnten und nur Dosen mit Kittekat aufmachen würden: es hat seinen Unterhaltungswert. Ich denke da an Jamie Oliver, Tim Mälzer, Rainer Sass und Horst Lichter. Aber die können natürlich im Gegensatz zu Nigella Lawson wirklich kochen.

Der schöne Satz: In der Küche ist, wie in allen Künsten, die Einfachheit der Ausweis der Perfektion von Brillat-Savarin (dem wir das wunderbare Buch Die Physiologie des Geschmacks verdanken), gilt nicht mehr uneingeschränkt. Es muss schon etwas mehr sein. Wie Sex Appeal. Sarah Wiener, die vielleicht Deutschlands Antwort auf Nigella Lawson ist, macht sich neuerdings für Mey Unterwäsche nackig. Für Mey U-Wäsche, man fasst es nicht. Wenn es wenigstens für Victoria's Secret wäre, würden wir ja nichts sagen. Aber muss das alles sein?

Im Gegensatz zu Nigella Lawson kann Sarah Wiener wahrscheinlich auch wirklich kochen. Ich kann mich noch an Nigella Lawson erinnern, da war sie noch keine Domestic Goddess (so der Titel eines ihrer Bücher), da schrieb sie Buchrezensionen in der Sunday Times. Stieg dann sogar zum deputy literary editor auf. War nicht so witzig wie Jilly Cooper oder so schön bösartig wie Julie Burchill, aber immerhin, das Studium der Tochter von Lord Lawson in Oxford machte sich bezahlt. Später schrieb sie dann Restaurantkritiken und wurde freie Journalistin. Dann wurde sie sexy Küchenfee, machte Millionen mit ihren Kochbüchern und heiratete den kunstsammelnden Multimillionär Charles Saatchi. Von dem ist sie aber schon wieder geschieden.

Jetzt ist sie gerade in allen Zeitungen, sie hat gerade vor Gericht gebeichtet, dass sie Kokain genommen hat. Der Telegraph witzelte: Lawson’s recipe for Ham in Coke now bears a less innocent interpretation. Was man nicht alles in der Küche gebrauchen kann! Alles was den Geschmack reizen konnte, wurde als Würze versucht. Man machte von Dingen Anwendung, deren Gebrauch wir heute nicht mehr begreifen können, wie Teufelsdreck, Baute und ähnliches Zeug, schreibt Brillat-Savarin in seiner Die Physiologie des Geschmacks. 

Ich weiß nicht, warum sich die Engländer heute so aufregen, das ganze 19. Jahrhundert über war die Nation doch rauschgiftsüchtig. Was glauben Sie denn, was in Mrs Winslow's Soothing Syrup drin ist? Nichts als Opium. Nennt sich nur anders, heißt Laudanum. Überall in der Literatur hinterlässt es seine Spuren. So sagt Victor Frankenstein in Mary Shelleys Roman: Ever since my recovery from the fever I had been in the custom of taking every night a small quantity of laudanum, for it was by means of this drug only that I was enabled to gain the rest necessary for the preservation of life.

Und Dr Watson macht sich so seine Gedanken über seinen Freund Sherlock HolmesNothing could exceed his energy when the working fit was upon him: but now and again a reaction would seize him, and for days on end he would lie upon the sofa in the sitting-room, hardly uttering a word or moving a muscle from morning to night. On these occasions I have noticed such a dreamy, vacant expression in his eyes, that I might have suspected him of being addicted to the use of some narcotic, had not the temperance and cleanliness of his whole life forbidden such a notion. Und wir finden da auch den schönen Dialog: "Which is it today,” I asked, “morphine or cocaine?” He raised his eyes languidly from the old black-letter volume which he had opened. “It is cocaine,” he said, “a seven-percent solution. Would you care to try it?” Was für Sherlock Holmes richtig war, das kann für Nigella Lawson doch nicht falsch sein.

Natürlich gibt es bei Nigella Lawson auch Fisch. Das sollte erwähnt werden, wo es hier letztens einen langen ichtyologischen Post gab. Wenn Sie sich nachts an den Kühlschrank schleichen und sich zwei Fischstäbchen von Käpt'n Iglo reinhauen, dann kann man das natürlich nicht verkaufen. Aber das Video Nigella Lawson Late Night Fish Finger Snack, das kann man verkaufen. Klicken Sie hier. Was würde Käpt'n Iglo nur dazu sagen?