Donnerstag, 22. April 2021

un petit moment

Ein Graf trifft in einem Bordell eine hübsche Achtzehnjährige. Er hat gleich eine schmutzige Idee: die junge Frau soll seinen Bruder (der natürlich auch ein Graf ist) heiraten, soll durch diese Heirat an den Hof des Königs kommen und die Mätresse des Königs werden. Damit unser Graf einen noch größeren Einfluss am Hofe bekommt. Das Bordell, in dem unser Graf die junge Blondine kennenlernt, wurde übrigens auch von dem Marquis de Sade besucht. Es kommt alles, wie es kommen soll, die kleine Marie Jeanne Bécu heiratet einen Grafen und wird am 22. April 1769 dem König als die Comtesse Du Barry vorgestellt. Der alternde König (es ist Louis XV) verliebt sich, die Comtesse steigt auf zur maîtresse en titre, der Nachfolgerin der Pompadour. Vielleicht hat sie ihn sogar geliebt, nach vielen Erzählungen soll sie die einzige gewesen sein, die an seinem Sterbebett ausharrte. Ich hätte dafür eine kleine Literaturempfehlung: Etiquette: Eine Rococo-Arabeske von Ossip Schubin, einer Schriftstellerin, die zu Unrecht vergessen ist.

Voltaire war hingerissen von der Du Barry. Er schreibt ihr am 20. Juni 1773 zwei kleine Gedichte in einem Brief, und diese beiden Vierzeiler, in denen es um Küsse und um Schönheit geht, sollen heute mein Gedicht des Tages sein:

Madame, M. de La Borde m’a dit que vous lui aviez ordonné de m’embrasser des deux côtés de votre part.

Quoi ! deux baisers sur la fin de ma vie ! 
Quel passeport vous daignez m’envoyer ! 
Deux ! c’est trop d’un, adorable Égérie :
Je serais mort de plaisir au premier.

Il m’a montré votre portrait ; ne vous fâchez pas, madame, si j’ai pris la liberté de lui rendre les deux baisers. 

Vous ne pouvez empêcher cet hommage,
Faible tribut de quiconque a des yeux. 
C’est aux mortels d’adorer votre image ; 
L’original était fait pour les dieux.

J’ai entendu plusieurs morceaux de la Pandore de M. de La Borde ; ils m’ont paru bien dignes de votre protection. La faveur donnée aux véritables beaux-arts est la seule chose qui puisse augmenter l’éclat dont vous brillez. Daignez agréer, madame, le profond respect d’un vieux solitaire dont le cœur n’a presque plus d’autre sentiment que celui de la reconnaissance.

Der erwähnte Monsieur de la Borde ist der Komponist Jean-Benjamin François de la Borde, ein Freund Voltaires. In der Zeit, als die Du Barry maîtresse en titre des Königs ist, hatte er den Posten eines Ersten Kammerdieners des Königs. In der Revolution landet er auf dem Schafott. Wie auch der Graf Du Barry, der einst die kleine Marie Jeanne im Bordell entdeckte. Wie auch Madame Du Barry, die einmal in ihr geheimes Tagebuch schrieb: Ich habe Angst vor dem Alter und glaube, dass ich lieber tot sein möchte als hässlich. Sie wird fünfzig Jahre alt werden, dann beendet das Fallbeil auch ihr Leben. Encore un moment, monsieur le bourreau, un petit moment, hatte sie den Scharfrichter vor dem Schafott angefleht. Sie wird diesen petit moment nicht bekommen. 

Samstag, 10. April 2021

Billabonne du so süß, Banjo

Von magischer, unwirklicher Schönheit war diese Delphine Seyrig, die Alain Resnais in einem Off-Broadway Theater in New York entdeckt hatte. Unvergesslich ihr erster Auftritt am Drehort von 'Letztes Jahr in Marienbad': in einen Burberry gehüllt, einen Schal über der dreißiger Jahre Frisur, tauchte sie hinter einer der Marmorsäulen in der Halle des Schlosses Schleißheim auf und begrüßte uns mit einem geistesabwesendem Lächeln. Ein Wesen von einem anderen Stern - auf der Leinwand wie im Leben. Das schreibt Volker Schlöndorff auf seiner Internetseite. Dem kann ich nur beipflichten, wegen Delphine Seyrig habe ich Letztes Jahr in Marienbad damals zweimal gesehen.

In Truffauts Film Geraubte Küsse wird Antoine Doinel über sie sagen: Ce n’est pas une femme, c’est une apparition. Und das ist sie gewesen, zu einer apparition haben Resnais und Truffaut sie stilisiert. Sie war aber auch in ganz anderen Filmen zu sehen: in Joseph Loseys  Accident an der Seite von Dirk Bogarde oder in dem Spionagethriller The Black Windmill mit Michael Caine, wo sie für eine Minute nackt zu sehen ist.

In dem Glas, das sie hier zu ihren Lippen führt, ist wahrscheinlich Blut. Wir sind hier in einem Vampirfilm. Nicht nur in einem Vampirfilm, sondern auch noch in einem lesbischen Vampirfilm. So etwas war im Fantasy Genre in den siebziger Jahren schick. Der Film heißt Daughters of Darkness (der deutsche Titel war Blut an den Lippen). Die Professorin Camille Paglia, die in engen Lederklamotten mit dem Motorrad zu ihren Vorlesungen kam, fand den Film interessant: A classy genre of vampire film follows a style I call psychological high Gothic. It begins in Coleridge's medieval 'Christabel' and its descendants, Poe's 'Ligeia' and James' 'The Turn of the Screw'. A good example is' Daughters of Darkness', starring Delphine Seyrig as an elegant lesbian vampire. High gothic is abstract and ceremonious. Evil has become world-weary, hierarchical glamour. There is no bestiality. The theme is eroticized western power, the burden of history. 

Sie können alle erwähnten Filme anklicken und zumLaufen bringen. Ich habe aber auch noch eine kleine filmische Sensation. Denn die junge Delphine Seyrig ist 1959 in einem schrägen kleinen Film von Robert Frank zu sehen, zusammen mit der halben Beat Generation. Wie Jack KerouacAllen GinsbergGregory Corso und den Künstlern Larry Rivers und Alice Neel. Das brave Hausmütterchen in Pull My Daisy war ihre erste Filmrolle. Als ich gesehen hatte, dass heute der Geburtstag von Dephine Seyrig ist, suchte ich im Internet nach einem Gedicht. Warum hat noch niemand von den Franzosen über diese apparition ein Gedicht geschrieben? Aber dann sah ich, dass sie Je vous écris d'un pays lointain von Henri Michaux im Radio gelesen hatte, und ich dachte mir: warum nicht Michaux?

Ich nehme jetzt nicht Je vous écris d'un pays lointain, ich nehme das Gedicht Amours. Das habe ich hier auch in deutscher Sprache, übersetzt von niemand anderem als Paul Celan. Das Gedicht stammt aus dem ersten Gedichtband Les rêves et la jambe, 1923 in Antwerpen in einer Auflage von vierhundert nummerierten Exemplaren erschienen. Die Frau, die er in diesem Liebesgedicht bedichtet, war Gabrielle Friedrich, die Chefin des kleinen avantgardistischen Verlags Editions Kra. Er nennt sie hier Banjo, manchmal auch Banjo By. Als er berühmt war, wollte er nicht, dass seine frühen Dichtungen erwähnt wurden. Paul Celan, der ihn übersetzt hat, war mit ihm befreundet, er hatte Mühe ihn zu überreden, dass er Amours übersetzen durfte. Michaux scheute die Öffentlichkeit, nur Gisèle Freund hat ihn einmal photographieren dürfen.

Amouren

Du, die ich nirgendwo zu erreichen weiß und die du
dieses Buch
hier nicht lesen wirst,
die du stets ins Gericht gegangen bist mit den
Schriftstellern,
den kleinen, kleinlichen, unwahren, eitlen Gesellen,
du, der Henri Michaux zu einem Eigennamen
worden ist,
in allem vielleicht wie die, die man in den Vermischten Notizen
liest, mit Alters- und Berufsangabe daneben,
du, die du in andrer Gesellschaft lebst, auf andern Flächen und
Feldern, anders umhaucht und umweht,
derenthalben ich mich jedoch überworfen hatte mit einer ganzen
Stadt, der Hauptstadt eines dichtbesiedelten Landes.
Und die du mir auch nicht ein einziges Haar zurückgelassen hast
beim Weggehn, sondern bloß die Empfehlung, deine Briefe
auch ja zu verbrennen –: bist nicht auch du jetzt zwischen vier
Wänden und ganz in Gedanken?
Sag, machts dir noch immer soviel Spaß, dir die schüchternen
jungen Männer zu angeln mit deinem samtenen Krankenhausblick?

Ich, ich habe noch immer denselben starren, verrückten Blick,
der irgend etwas Persönliches sucht,
irgendwas mir inmitten dieser unendlichen unsichtbar-
kompakten Materie Hinzuzufügendes,
das den Zwischenraum bildet zwischen den Körpern der als solcher
bezeichneten Materie.
Unterdessen habe ich mich aber einem neuen „Wir“ überantwortet.
Sie hat Lampenlicht-Augen wie du, sehr sanft, nur größer als die
deinen; eine dichtere, tiefere Stimme; und ein Schicksal, so
ziemlich dem deinen ähnlich in seinem Beginn und seinem Verlauf.
Sie hat… Sie hat-te!
Hab sie morgen nicht mehr, meine Freundin Banjo;
Banjo,
Banjo,
Bibolabange du so bang,
Bilabonne du so süß, Banjo,
Banjo,
Banjo so allein-allein, Banjelein,
Banjeby,
so lauter Liebe, Lie-,
hab deine kleinen Brüste verloren,
-loren,
und deine unsägliche Nähe.

Sie haben alle gelogen, meine Briefe, Banjo … und jetzt, jetzt geh
ich.
Hab eine Fahrkarte in der Hand: 17.084.
Königlich-Niederländische Schiffahrtsgesellschaft.
Man braucht nur der Fahrkarte zu folgen und kommt nach
Ecuador.
Fahrkarte und ich, morgen machen wir zwei uns auf den Weg,
den Weg nach Quito – der Stadt mit dem Reim auf „couteau“.
Mir wird ganz eng, sobald ich daran denk.
Und doch wird man mir sagen:
„Schön, dann soll sie eben mitfahren mit Ihnen.“
Ja gewiß doch, wir wollten ja nur ein kleines Wunder von euch da
da droben: ihr Haufen Müßiggänger, Götter, Erzengel, Erwählte,
Feen, Philosophen, und ihr, meine genialen Kumpane, die ich
so geliebt habe:
du, Ruysbroek, und du, Lautréamont,
der du dich nicht für dreimal Null hieltst; ein ganz kleines
Wunder, ja das wars, was wir von euch haben wollten, für Banjo
und für mich
.

Mittwoch, 7. April 2021

Tiger im Regen

Vor drei Tagen ist die Schauspielerin Angelica Domröse achtzig Jahre alt geworden, sie war neben Jutta Hoffmann (die hier vor Wochen schon einen Post hatte) die berühmteste Schauspielerin der DDR. 1970 war sie in Wolfgang Luderers Effi Briest die Effi, aber noch berühmter wurde sie drei Jahre später als Paula in dem Kultfilm Die Legende von Paul und Paula. Den hat der MDR als kleines Geburtstagsgeschenk am Sonntag gezeigt. Er ist noch vier Wochen hier in der Mediathek (ansonsten können Sie ihn hier sehen). Ihrer Autobiographie Ich fang mich selbst ein hat Angelica Domröse das Gedicht Trauriger Tag von Sarah Kirsch aus deren erstem Lyrikband Landaufenthalt vorangestellt; und das soll heute mein Gedicht des Tages sein:
Ich bin ein Tiger im Regen
Wasser scheitelt mir das Fell
Tropfen tropfen in die Augen

Ich schlurfe langsam, schleudre die Pfoten
Die Friedrichstraße entlang
Und bin im Regen abgebrannt

Ich hau mich durch Autos bei Rot
Geh ins Café um Magenbitter
Freß die Kapelle und schaukle fort

Ich brülle am Alex den Regen scharf
Das Hochhaus wird nass, verliert seinen Gürtel
(ich knurre: man tut was man kann)

Aber es regnet den siebten Tag
Da bin ich bös bis in die Wimpern

Ich fauche mir die Straße leer
Und setz mich unter ehrliche Möwen

Die sehen alle nach links in die Spree

Und wenn ich gewaltiger Tiger heule
Verstehn sie: ich meine es müsste hier
Noch andere Tiger geben.