Freitag, 13. März 2020

memories: dänischer Sommer


Der Sommer ist eher kühl, die fett-grauen Wolken vom Meer her schieben sich träge aber stetig über die blauwaldigen Dünen und die Ebenen, schütteln sich ärgerlich, wenn sie gegen die Hügelkuppen stoßen. Unter denen, so sagt man, Könige begraben liegen. Hier ist alles Geschichte. Das wäre etwas für Fontane gewesen. Selbst im Schloss Hojriis auf Mors soll es spuken, aber das hat der Herr Trapp, in dessen Hotel Fontane in Nyköbing absteigt, ihm nicht erzählt. Vielleicht ist die Spukgeschichte auch erst später für die Touristen erfunden worden. Überall gibt es einen Hamlets Klint. Am Eingang von Schloss Kronborg in Helsingör ist eine Steintafel mit einem der Renaissance nachempfunden Portrait und den Worten Sagnet fortaeller om en kongesön Amleth, der livede in Jylland för Vikinge tiden. Hier auf der Insel Mors ist der Ausgangspunkt für die Geschichte des Saxo Grammaticus.

Hier auf dem Feggeklit soll Hamlet seinen Onkel, den bösen König Fegge umgebracht haben. Und Gräber von Hamlet gibt es auch überall. Natürlich auch in Helsingör, im Park des Schlosses Marienlyst. Da liegt der Lieblingshund von König Valdemar begraben, höhnt man in Jütland, Hamlet liegt für sie natürlich unter dem Hamletstein von Fjellerup. Aber auch an anderen Stellen erzählt man sich Geschichten von einem Prinzen, wie die von Prinz Buris Henriksen, der die schöne Liden Kirsten liebt, die Schwester von König Valdemar. Aber das darf nicht sein, der Prinz verliert sein Land und seine Freiheit, der König Valdemar lässt das Mädchen und das Kind töten. Und junge Paare besuchen noch für Jahrhunderte den Stein in Vestervig, unter dem die Liebenden begraben sind. Jede Braut, die in der Kirche von Vestervig getraut wird, legt ihren Brautkranz auf das Grab. Die Grabplatte auf dem Friedhof ist ungewöhnlich, dreieinhalb Meter lang, an einer Stelle ist sie gebrochen. Und an beiden Enden steht ein kleiner Grabstein.

Es gibt in diesem Sommer noch andere Prinzessinnen, lebende. Zum einen ist die Königsfamilie auf ihrer jährlichen Sommerrundfahrt mit der Yacht Dannebrog für einige Tage in Nyköbing (und an den Tagen ist auch schönstes Sommerwetter, sozusagen Kaiserwetter), ich sehe die Prinzessin, die jetzt Königin ist, in einem wunderblaren royalblauen Abendkleid. Und die Prinzessin meines Heimatortes ist auch da. Wir sind jetzt achtzehn, und das hier um uns herum ist die ideale Landschaft für einen Sommerflirt, aus dem mehr werden könnte. Und auch Begegnungen in Kirchen haben jetzt ihren Reiz. Ingrid singt mir in einer verlassenen Kirche, in die schon Gras und Unkraut hineinwachsen, Summertime vor. Nur für mich. Um die Akustik der kleinen Kirche zu testen. Sie kann wunderschön singen. Aber ihr Summertime klingt anders als das, das Ute damals in der Nacht in der Strandlust gesungen hat. Hier im von huschenden Sonnenfetzen beleuchteten weißgekalkten Raum hat die Melodie eher die Qualität von sakraler Musik. Summertime, and the living is easy. Getrennt von der Welt da draußen, die heute kein wirklicher Sommertag ist. Aber ich weiß schon, dass dies ein kleines Geschenk an mich ist. Dass sie jetzt nur für mich singt, in dieser kleinen Kirche, die sich auf der Düne festkrallt wie das Gras und die verhungerten Kiefern. Auf der Nordwestseite liegen die Butzenscheiben schon unter einer Sandschicht.

Wenn dies ein Wunschkonzert wäre, würde ich mir jetzt von ihr I skovens dybe stille ro wünschen. Aber man kann nicht alles haben. Die Augenblicke von großer Nähe und Vertrautheit, an denen ich ihr morgens das Butterbrot schmiere, wechseln ab mit Tagen von großer Fremdheit, there ain’t no cure for the summertime blues. Sie weiß auch nicht so recht, was sie will. Sie hat jetzt, wie beinahe alle Achtzehnjährigen, Ärger zu Hause mit ihren Eltern, Taschengeldkürzungen, Ausgehverbot, es ist ein Wunder, dass sie überhaupt mitfahren durfte. Wir werden diesen Sommer nebeneinander hergleiten, uns suchen und nicht suchen. Sie weiß nicht, dass ich Gedichte über sie schreibe. In der Ersatzwelt, die uns heute das Internet bietet, kann ich bei YouTube jeden Tag I skovens dybe stille ro hören. Ergreifend gesungen von einer Dänin namens Anette Kruse in ihrer Küche. Ein kleines Stück von der Jugend kommt immer wieder zurück.

Zum Abschluß dieses schönen Sommers gibt es eine Dampferfahrt durch den Limfjord und das Kattegat bis nach Kopenhagen. Dafür haben wir einen wunderschönen Sommertag erwischt. Ich werde nicht mit der Gruppe in der Nacht zurückfahren, weil ich für den Rest der Woche allein in Kopenhagen bleiben werde, bis mich meine Eltern abholen. Danach wollen wir wieder nach Moen. Es gibt einen Abschied von Ingrid, sie wird mich zärtlich umarmen, und da sind wir uns wieder ganz nah. Der schöne Augenblick wird allerdings dadurch versaut, dass mich zwei Minuten später ein Schwuli fragt, ob ich ihm die Uhrzeit sagen könnte. Und das unter einer großen beleuchteten Uhr! Ich habe für ihn einige schlimme Sätze aus dem Vokabular der amerikanischen Besatzungszeit parat, die außerhalb des Oxford English unseres Englischlehrers liegen, und er trollt sich.

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