Dienstag, 18. August 2020

Mary Quant


Wenn wir an Paris und Damenmode denken, fallen uns sofort ein halbes Dutzend Couturiers ein. Denken wir an London und Damenmode, was fällt uns da ein? Erst einmal nichts, obgleich es bedeutende englische Couturiers gegeben hat. Immerhin war es der Engländer Charles Frederick Worth, der hier schon einmal vorkam, der die Pariser Haute Couture erfunden hat. Und ein Jahrhundert später gab es den Captain Molyneux, allerdings hatte der seinen Salon auch in Paris. Und wir dürfen natürlich die Schneider der Queen wie Norman Hartnell und Hardy Amies nicht vergessen. Beide wurden von dem Königin geadelt und bekamen nicht so etwas Popliges wie den Order of the British Empire, nein, für ihre Verdienste musste es schon der Royal Victorian Order sein. Der Schneider, den die Königin seit Jahren favorisiert, wird diesen Orden nicht bekommen. Nicht weil sie mit ihm unzufrieden ist, sondern weil er ein Deutscher ist. Ja, Sie haben richtig gelesen, ein Deutscher namens Karl-Ludwig Rehse schneidert für die Königin.

Hartnell und Amies schneiderten elegante Mode für die elegante Lady, die nicht zum Shoppen nach Paris fahren wollte. Eine Eleganz, die heute ausgestorben scheint, und die durch das Model Barbara Goalen perfekt (oben) verkörpert wurde. Natürlich gab es in den fünfziger und sechziger Jahren all das, was gerade in Paris Mode war, für die englische Frauenwelt auch preiswerter, zum Beispiel von der Firma Susan Small (links), für die Barbara Goalen auch als Model gearbeitet hat. Und selbstverständlich konnte die Dame Tragbares für den Alltag auch bei Jaeger oder ➱Simpsons (DAKS) kaufen. Die natürlich bekannter dafür waren, dass sie den englischen Gentleman mit hochwertiger Konfektion ausstaffierten.

Alison Settle (von 1926 bis 1935 Direktorin der englischen Vogue) schrieb 1945 in der Picture Post in dem Artikel London: Can it Become a World Fashion Centre?Success cannot come to English fashions, so long as the men of the country treat fashion as being essentially frivolous and even laughable... to take the trends of fashion seriously, to discuss clothes seems unthinkable. Only when fashion trends, colours and the whole philosophy of clothes is talked about - as films, pictures or music are discussed - can the textile trades of Britain regain their merited superiority in the eyes of the world. Was man 1945 kaum glauben mochte, wurde wenig später durch Mary Quant (und andere) wahr.

Denn für die Revolution der englischen Damenmode steht der Name des heutigen Geburtstagskinds Mary Quant, die den Minirock erfunden hat (und ihn nach ihrem Lieblingsauto benannte). Der war zum ersten Mal in der Vogue 1962 zu sehen. Mary Quant hat von der Königin auch einen Orden bekommen, aber nicht so etwas Vornehmes wie Hartnell und Amies. Es war ein schlichtes OBE, das ihr die Königin überreichte. Mary Quant kam zu der Ordensverleihung natürlich im Minirock, die Königin natürlich nicht. Obgleich das sicher witzig gewesen wäre. Der französische Designer André Courrèges, der in Paris Frauen in seltsame Gewänder hüllte, hat den Minirock dann in der französischen Haute Couture heimisch gemacht.

Der Minirock verdankt seinen Erfolg dem pulsierenden Leben des Swinging London und Models wie Jean Shrimpton (links) und Twiggy, denn ohne The Shrimp oder Twiggy wäre das wohl nichts geworden. Cilla Black (die natürlich auch einen Minirock getragen hat), war dafür irgendwie zu pummelig. Nicht jedermann, sprich jede Frau, konnte sich Mary Quant Kleider leisten, die qualitativ hochwertigen Teile waren in ihrem Bazaar in der King's Road verhältnismäßig teuer. Zusammen mit ihrem Ehemann Alexander Plunket Green hatte sie die Mary Quant Ginger Group gegründet, wo es eine preiswerte Linie zu kaufen gab, aber auch die war nicht überall in England erhältlich. Natürlich gab es überall Kopien, und ich nehme mal an, dass sogar Marks&Spencer Mary Quant Ähnliches in den Schaufenstern hatte.

Eins der seltsamsten Designs waren ihre pinafore dresses. Nicht alle waren so avantgardistisch wie dieses Teil aus dem Victoria & Albert Museum. Manches sah so aus, als hätten sich die Girls von St Trinian's in die Haute Couture verirrt. Und auch das, was die Designerin hier bei einer Modenschau trägt, ist ja etwas gewöhnungsbedürftig. Irgendwo auf der Welt werden heute noch immer seltsame Wollkleider getragen. Quant konnte tun, was sie wollte, ihre Mode wurde gefeiert und kopiert. Später war sie als Designerin für eine Vielzahl von Firmen tätig, unter anderem sogar für J.C. Penney. Dazu sage ich jetzt nix. Sie hätte solchen Unsinn nicht nötig gehabt, aus dem Bazaar in Chelsea war ein weltweit operierendes Modeunternehmen geworden, auch eine eigene Kosmetiklinie gab es schon sehr früh.

Die englischen Designerinnen der sechziger Jahre kamen nicht aus den Ateliers der Haute Couture. Die Haute Couture produziert (ebenso wie die Savile Row) in England keine wirklich neue Mode. Die Mode, die England veränderte, kam jetzt aus dem Hochschulen: Quant changed the whole approach of the British to fashion. Up until then 'fashion' was French and for the rich and frivolous. English upper-class girls were expected to dress like their mothers, and only tarts and homosexuals wore clothes which reflected what they were. Sagt George Melly in Revolt into Style, nach vierzig Jahren immer noch eins der besten Bücher über die Zeit.

Dass sich englische Kunsthochschulen und Kunstgewerbeschulen ernsthaft mit der Mode beschäftigten, ist in nicht kleinen Teilen das Verdienst von Muriel Pemberton gewesen. Die neben ihrem Kunststudium in den dreißiger Jahren für das Modehaus Reville-Terry gearbeitet hatte und die immer dafür eingetreten war, dass man fashion als Fach studieren konnte. Weshalb sie nun keinen Wikipedia Artikel hat, verstehe ich wirklich nicht. Ich kann jetzt nur auf diesen ➱und diese persönliche Erinnerung von Lou Taylor verweisen. Lou Taylor hat zusammen mit Elizabeth Wilson 1989 das vorzügliche Begleitbuch zu der BBC Serie Through the Looking Glass: A History of Dress from 1860 to the Present Day geschrieben. Ich vermute mal, dass alle substantiellen Teile des Buches von Lou Taylor sind, Elizabeth Wilson hat dann ihre feministische Theoriesoße über das Ganze gekippt. Lou Taylor hat in der Textilindustrie gearbeitet bevor sie eine Anstellung in der Kostümabteilung des Royal Scottish Museum fand, zuvor hatte sie natürlich noch Mode an der St. Martin’s School of Art studiert (wenn Sie sich durch die Liste der Absolventen klicken, haben Sie ein Panorama von Künstlern und Designern, das von Anita Pallenberg bis John Galliano reicht). Elizabeth Wilson hat von all dem keine Ahnung, aber sie hat ihre Theorie. Das sind mir die liebsten.

Mary Quant hatte am Goldsmiths College studiert, ihre Konkurrenten in der Modeszene wie Marion Foale und Sally Tuffin (die den Look erfanden, den später Laura Ashley vermarktete) kamen auch von Kunsthochschulen (nur Jean Muir hatte nicht studiert). Mary Quant hatte bei Alexander Plunket Green, den sie an der Hochschule kennengelernt hatte, im Bazaar als Einkäuferin angefangen (und ihn auch gleich geheiratet); wenig später kamen ihre ersten Kollektionen auf den Markt. Alexander Plunket Green, ein großer Dandy mit eleganten Manieren, besaß einen upper class background, was dem jungen Ehepaar alle Türen des Chelsea Sets öffnete. Aber gleichzeitig hatte der Dandy Plunket Green diese Épater la bourgeoisie-Attitüde, die ihn dazu prädestinierte, zusammen mit seiner Ehefrau eine andere Mode als Hartnell oder Amies zu machen. Mary Quant war nicht die Einzige, die damals fetzige Mode machte, Barbara Hulanicki war mit Boutique Biba vielleicht noch berühmter. Was nur daran lag, dass sie zwar das gleiche machte wie Quant, aber viel billiger war.

Irgendwie vermisse ich diese Zeit mit den kurzen, schnellen Halbwertzeiten preiswerter, fetziger Mode. Savile Row Anzüge und Jermyn Street Hemden sind ja schön und gut, aber damals stand einem der Sinn nicht nach sartorialer Ewigkeit. Und so denke ich mit liebevoller Erinnerung an eine Vielzahl von schlimmen, aber für einen Augenblick hochmodischen, Teilen wie das quietschegrüne Hemd aus der Carnaby Street zurück.

Zwischen dem Bild von Barbara Goalen als aristokratisch arroganter Lady und den mit geheuchelter Unschuld posierenden androgynen Kindfrauen wie Twiggy scheint ein halbes Jahrhundert zu liegen - es sind aber nicht einmal zehn Jahre. Mit Mary Quant hat die englische Mode - man verzeihe mir das Wortspiel - einen Quantensprung vollzogen, von nun an wird alles in der Mode schneller und schneller. Ein halbes Jahrhundert nach Alison Settles Frage London: Can it Become a World Fashion Centre? verschickte Amy de la Haye, die gerade die Ausstellung The Cutting Edge: 50 Years of British Fashion, 1947-1997 für das Victoria & Albert Museum kuratierte, einen Fragebogen an alle wichtigen englischen Modedesigner. Eine der Fragen lautete: How would you describe, in a few words, your style and position in the fashion market? Mary Quant antwortete kurz und faktisch: Mid to high price-range. The look: sport-chic. Fashions, undies, bags, belts, swimsuits, make-up (120 eye-colours, 101 lip colours, 8o nail colours). Skincare and Bodyline. Worte einer Unternehmerin, die es geschafft hat. Allerdings ist der Look, durch den sie berühmt wurde, beliebig reproduzierbar. Schon Richard Lester betrachtet die androgynen Möchtegern-Jungfrauen in seinem Film The Knack sehr satirisch.

Sir Hardy Amies beantwortete übrigens die gleiche Frage mit dem Satz: The one remaining truly couture house in Great Britain. Mary Quant und all die Designerinnen und Designer des Swinging London bedeuteten zwar den Erfolg Londons als Modestadt, aber sie waren auch das Ende der englischen Lady, das Ende von clothes which have social confidence (Alison Settle). Und so gibt es hier, aus reiner Nostalgie, noch ein Photo von Barbara Goalen.

Lehrerin


Es ist zu heiß, um etwas Neues zu schreiben, man sollte die Beine im Wasser baumeln lassen wie diese Dame, die sie noch aus dem Post vom Dienstag kennen. Ich stelle noch mal etwas Älteres ein, das hier vor genau sieben Jahren stand. Der Post über die Bremer Pädagogin Betty Gleim hatte damals wenig Leser gehabt, wenige Tage später hatte der Post über Roman Polanski abertausende von Lesern. Wenn man über Polanski schreibt, oder über die schönen Beine der Viscountess Castlerosse, dann bekommt man viele tausend Leser. Ich gebe gerne zu, dass ich Klatsch und Tratsch liebe, aber manchmal sollte man auch ernsthaft sein. Und sub specie aeternitatis ist die Lebensleistung von Betty Gleim größer als die der Viscountess mit ihren Sexaffairen. Der Post begann 2013 mit gehässigen Bemerkungen über die damalige schleswig-holsteinische Kultusministerin Wara Wende, die lasse ich jetzt mal weg. Frau Wende war auch kurz danach keine Ministerin mehr. Der Post über sie hatte über fünftausend Leser, es wäre mir lieber gewesen, wenn der Post über Betty Gleim so viele Leser gehabt hätte.

Betty Gleim wurde als Adelheid Gleim heute vor 239 Jahren geboren, aber irgendwann veränderte sich ihr Vorname in Ilsabetha. Woraus dann Betty wurde. Sie ist heute beinahe vergessen, viele Professoren der Pädagogik kennen sie nicht. Und doch war Betty Gleim eine Revolutionärin der Pädagogik. Und eine Pionierin des Kampfes um die Rechte der Frauen. In ihrer Heimatstadt Bremen kennt man sie vielleicht noch, es gibt im Ostertorviertel eine Gleimstraße. Man kennt sie vielleicht auch noch als die Verfasserin des Bremischen Kochbuchs. Das natürlich ein Rezept für das Bremer Nationalgericht Kohl und Pinkel enthält. Als ich darüber schrieb, habe ich sie natürlich erwähnt. Es ist jetzt zwar nicht die richtige Zeit für das norddeutsche Grünkohlgericht, aber ich kann den mit Liebe geschrieben Post Kohl und Pinkel unbedingt zur Lektüre empfehlen. Das Bremische Kochbuch wird ihr erfolgreichstes Buch werden, es erlebt bis 1892 dreizehn Auflagen. Man wünschte sich, dass ihr Buch Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts: Ein Buch für Eltern und Erzieher auch solche Akzeptanz gefunden hätte.

Die Bremischen Biographien des neunzehnten Jahrhunderts haben für Betty Gleim nur sechs Zeilen übrig, verweisen aber in den Anmerkungen auf den Eintrag in der Allgemeinen Deutschen Biographie. Es gibt inzwischen  erstaunlicherweise auch einen Wikipedia Artikel (der genauso lang ist wie der von Frau Wara Wende). Mehr noch findet sich natürlich in dem Buch von August Kippenberg Betty Gleim: Ein Lebens- und Charakterbild. Als Beitrag zur Geschichte der deutschen Frauenbildung und Mädchenerziehung, zugleich erwachsenen Töchtern eine Mitgabe für das Leben (Bremen 1882). August Kippenberg (der Vater des berühmten Anton Kippenberg) ist ein fortschrittlicher Pädagoge gewesen, der manche Ideen von Betty Gleim in die Tat umgesetzt hat. Die Schule, die er begründet hat, gibt es heute immer noch.

Betty Gleims Vater, der Weinhändler Johann Christian Gottlieb Gleim, war von Halberstadt nach Bremen gezogen und hatte die Nichte des Bürgermeisters Franziskus Tidemann geheiratet. Weinhändler in einer Hansestadt zu sein, bedeutet ganz oben bei den Pfeffersäcken zu sein. Und wenn Johann Christian Gottlieb Gleim auch nicht so reich ist wie der Vater von Doris Finke, so reicht es doch für eine gute Erziehung der Tochter. Sie ist auch in ihrer Jugend weit gereist. Und hat offene Augen für die Welt gehabt. In England lernt sie lithographische Anstalten kennen, eine solche wird sie eines Tages in Bremen auch gründen, um dem weiblichen Geschlechte die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erleichtern. Ich erwähne Doris Finke aus dem Grund, weil sie eines Tages Klaus Groth heiraten wird und in ihren Briefen und Tagebüchern ein Bild einer hanseatischen Weinhändlerfamilie zeichnet. Aber bei den Halberstädter Gleims ist einiges anders, denn Johann Christian Gottlieb Gleim ist der Neffe des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim (Bild). Der einen großen Einfluss auf Betty Gleim haben wird.

Betty Gleim hat die Schriften von Rousseau und Pestalozzi gelesen. Aber so sehr sie Rousseau verehrt, so entschieden wird sie sich gegen ihn wenden. Der Meinung Rousseaus, dass die ganze Erziehung der Töchter ... ihre Absicht auf das männliche Geschlecht haben [muss]. Den Männern gefallen und nützen, sich ihre Liebe und Hochachtung erhalten, sie verpflegen, ihnen raten, sie trösten, ihnen das Leben annehmlich und süß machen, das sind zu allen Zeiten die Pflichten des weiblichen Geschlechts, diese muß man dasselbe von Jugend auf lehren, setzt sie entgegen: den Männern gefallen, ist zu wenig. Und weiter: Tausende sind ein Opfer dieses Wahns geworden, Tausende sind in dem Unmut über eine ganz verfehlte Bestimmung in voller Untüchtigkeit und Untätigkeit trostlos zugrunde gegangen, haben ein Leben hingeschleppt, das kein Leben ist. Das musste dem Philosophen, der seine Kinder im Waisenhaus abgibt, mal gesagt werden. Alle Frauen sind Menschen, folglich müssen auch sie intellektuell, moralisch und religiös gebildet werden, sagt Betty Gleim.

Johann Heinrich Pestalozzi (hier von Georg Friedrich Adolph Schöner gemalt, der auch das Bild oben von Betty Gleim gemalt hat) nimmt an den Entwicklungen seiner Verehrerin durchaus Anteil. In einem Brief an den Bremer Pädagogen Jakob Blendermann schreibt er: Sagen Sie Md. Gleim, wenn sie über das Eigenthümliche, das eine Mädchenschul auszeichnen muß, mit mir eintretten und mir ihre Ansichten und Erfahrungen mittheilen wolle, so werde ich mich freuen, und ich würde mir alle Müh geben, ihr, so viel mir möglich, an die Hand zu geben. Es ist mir sehr wichtig, daß ein solches Institut entstehe, und ich bin äußerst begierig über seinen Erfolg. Die Mädchenschule, die er hier anspricht, hatte die 24-jährige Betty Gleim in einer 1805 gedruckten Schrift Ankündigung und Plan einer in Bremen im Jahre 1806 zu errichtenden Lehranstalt für Mädchen gefordert. Es sollte eine Schule sein, in der der Unterricht für vier- bis sechzehnjährige Mädchen in drei Klassenstufen organisiert war. Sprachen, Literatur, Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften standen auf dem Stundenplan. Im Jahre 1806 wird die Schule eröffnet. Das Umfeld für das Experiment ist nicht ungünstig, denn um 1800 sind schon zwei Reformpädagogen in Bremen tätig. Ich habe die Herren Ewald und Häfeli schon in dem Post Bremer Klausel erwähnt. Mit Haefelis Tochter Regula war die junge Betty befreundet, und der Pastor Haefili hat sie im Mai 1799 in der Ansgarikirche konfirmiert.

1806 ist das Jahr des Untergangs Preußens, ist aber auch der Beginn der preußischen Reformen. Noch bevor Wilhelm von Humboldt seine Bildungsreform in Gang setzen kann, kämpft in Bremen eine Schriftstellerin und Pädagogin für die Frauenbildung. Die Bildung der Armen, die bisher von jeglicher Bildung ausgeschlossen waren, nicht zu vergessen: Die Bildung ist nicht das Privilegium einiger besonders Begünstigten, sondern sie ist ein Gemeingut der Menschheit. Alle sollen zur Erkenntniß der Wahrheit, zum Gefühl und zur Anschauung erzogen werden....  Sollen die unteren Stände ohne Aufhören in der Unwissenheit und Geistesfinsternis trauriger Nacht seufzen? Soll nie der Einsicht und Erkenntnis beglückende Klarheit sie umfangen? 

Was hatte Kant gesagt? Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Betty Gleim hat Kant schon richtig verstanden: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Sapere aude! Betty Gleim hat es gewagt. Sie war nicht ganz allein, einige Freundinnen, die wie sie Lehrerinnen waren, haben sie unterstützt. Vor allem das Fräulein Sophie Lasius aus Oldenburg. August Kippenberg schrieb in seinem Buch über Betty Gleim: Das wechselseitige Verhältnis beider gestaltet sich bald zur innigsten Seelengemeinschaft. Stets einer vertrauten Herzensfreundin bedürftig, schloß sich Betty der Sophie Lasius mit einer Inbrunst an, die in einem noch erhaltenen Brief den lebhaftesten Ausdruck schwärmerischer Jugendfreundschaft annimmt. Beide waren fast nie getrennt. Die Pädagogin Betty Gleim ist nicht alt geworden. Der Tochter einer Freundin hatte sie abgeraten, Lehrerin zu werden: der Beruf sei zu beschwerlich und allzu kümmerlich. Sie hatte sich wegen Erschöpfung und Krankheit aus der Arbeit an ihrer Schule zurückgezogen und verstarb 1827 im Alter von sechundvierzig Jahren. In den Armen der so innig geliebten Freundin, wie Kippenberg schreibt.

Betty Gleims Buch Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts: Ein Buch für Eltern und Erzieher können Sie hier bei Google Books lesen. Die 1814 geschriebene Abhandlung Was hat das wiedergeborne Deutschland von seinen Frauen zu fordern? auch.

Dienstag, 11. August 2020

schöne Beine


Eine Dame nimmt ein Sonnenbad auf der Terrasse eines Châteaus in Südfrankreich. So etwas darf ein Maler malen. Zumal die Dame ja auch noch relativ züchtig bekleidet ist, obgleich ihre Shorts im Jahre 1933 schon etwas Gewagtes sind. Das Bild sieht ein klein wenig danach aus, als ob es ein Amateurmaler gemalt hätte. Ein Profi hätte die Dame anders im Raum plaziert, nicht so an die Wand gedrückt.

Dieses Bild zeigt dieselbe Frau. Es ist von einem Profi gemalt (der übrigens dem Maler des ersten Bildes mal Malunterricht gegeben hat). Er setzt die blonde Lady auf das Sprungbett eines Swimming Pools, und schon dominiert sie das Bild, weil ihre Beine in dieser provokativen Pose jetzt ganz anders ins Bild kommen. Das Bild, das in den dreißiger Jahren in Palm Springs gemalt wurde, besitzt eine erstaunliche Modernität, es nimmt ein wenig die Swimmingpool Bilder von David Hockney vorweg. Das Bild kam vor Jahren bei de Veres in Dublin zur Auktion, der Schätzpreis lag bei 50.000 bis 70.000 Euro, es wurde für 50.000 Ezro zugeschlagen.

Die Dame mit den schönen Beinen hat ein gesellschaftliches Leben außerhalb von Swimmingpools. Auf diesem Photo, das 1929 auf einem Kostümball aufgenommen wurde, ist sie als Nixe zu sehen, da verzichtet sie darauf, ihre berühmten Beine zu zeigen. Hans Christian Andersen hat sich seine kleine Meerjungfrau wahrscheinlich ganz anders vorgestellt. Wenn ich dieses schreiend komische Bild vor Jahren schon gekannt hätte, hätte ich es in dem Post Meerjungfrauen + Waldnixen plaziert.

Unser Amateurmaler, der die Frau mit den Shorts auf dem Sofa malt, ist von der schönen Frau fasziniert. What fun we had at Maxine's. It was beautiful having you there. You were once again a manifest blessing and a ray of sunshine around the pool. I wonder whether we shall meet again next summer, schreibt er ihr. Sie werden sich im nächsten Sommer sehen. Er wird sie auch wieder malen. Es ist jetzt vielleicht an der Zeit zu sagen, wer Maler und Modell sind. Und die Frage zu klären: Haben die beiden etwas miteinander?

Bleiben wir zuerst noch einmal bei den Swimmingpools. Hier sehen wir die Blondine mit dem Mann, den sie gerade geheiratet hat. Wenn eine schöne Frau solch einen Fettsack heiratet, muss sie dafür ihre Gründe haben. Die gibt es, denn durch die Heirat wird aus einer Jessie Doris Delevingne eine Viscountess Castlerosse. You may think it fun to make love. But if you had to make love to dirty old men as I do, you would think again, hat sie über ihre Karierre gesagt. Vorher war sie eine poule de luxe, jetzt ist sie eine Viscountess und hat ein kleines Krönchen auf ihrem Briefpapier und ihren Kissenbezügen.

Sie hat sich nach oben geschlafen. An Englishwoman’s bed is her castle, hat sie einmal gesagt. Auf irgendeine Art und Weise müssen der Rolls Royce, die glitzernden Kleinigkeiten von Cartier, die Kleider von Schiaparelli und die tausend italienischen Schuhe ja bezahlt werden. Die Viscountess hat schöne Beine, die zeigt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit, hier in Deauville. 1956 schrieb der PunchLegs, now, are relatively retiring; it was in the 1920s that they reached, with the shortest skirts, their greatest influence. On the screen, leg appeal was epitomized by Marlene Dietrich; in Society by Doris Delevingne. Mit der Dame neben ihr wird sie irgendwann ein lesbisches Verhältnis haben. Die amerikanische Millionärin kauft den Palazzo Venier dei Leoni und schenkt ihn ihr.

Die schönen Beine kann man natürlich, wenn man genau hinschaut, schon auf dem Bild des Amateurmalers im ersten Absatz sehen. Bei Sir John Laverys Bild im zweiten Absatz kommen die Beine richtig zur Geltung. Sir John, der auf diesem Photo mit seinem aristokratischen Modell am Schwimmbecken steht, hatte schon ein Portrait (ohne Swimmingpool und nackte Beine) von ihr gemalt. In züchtiger Kleidung (einem Reitkostüm aus dem 18. Jahrhundert - unsere Wassernixe verkleidet sich gerne) mit einem schwarzen Hut.

Die Zeitschrift Sketch nannte das Portrait a delightful example of the art of the President of the Royal Academy. Ihr Ehemann warf nur einen Blick auf das Bild und sagte: It may be art, which I doubt, but it isn't Doris. Das Bild wurde 1997 bei Sotheby's verkauft. Davon gibt es allerdings leider keine Abbildung im Internet. Aber bei mir schon, wenn Sie in diesem Auktionskatalog auf die Seite 28 gehen, können Sie das Bild sehen. Ganz klein. Auf dem Cartoon des Tatler sieht unsere Viscountess natürlich ganz anders aus (die National Gallery sammelt inzwischen schon Doris Castlerosse Cartoons)-

Sir John Lavery konnte Frauen malen, dies hier ist seine Ehefrau Hazel. Im letzten Jahrhundert schmückte die Schönheit die irischen Banknoten. Der Viscount Castlerosse ist mit Lavery befreundet, weil der wie seine eigene Familie aus Irland kommt. Sir Johns Frau schwärmte für den dicken Castlerosse, hielt allerdings überhaupt nicht von Doris. Sie sagt zwar nicht Doris could write a book called 'Around the World in Eighty Beds' wie eine andere Dame, aber so etwas Ähnliches hat sie schon gedacht.

Ich kann nicht nur ein Photo von der Viscountess mit ihrem Maler in Palm Springs anbieten, ich habe auch ein Photo, das sie mit dem Amateurmaler, der sie zweimal portraitiert hat, an einem felsigen Rivierastrand zeigt. Er ist etwas übergewichtig, aber er ist definitiv nicht ihr Ehemann, der Viscount Castlerosse. Wir alle kennen den Herrn, es ist Winston Churchill. Die Maler Churchill und Lavery kennen sich, 1915 haben sie sich gegenseitig portraitiert, und Churchill hat Malunterricht bei Lavery genommen. Der Daily Express titelte damals: Mr Winston Churchill is challenging the achievement of Sir John Lavery. He is painting a portrait of Lady Castlerosse. Lavery hat über Churchill gesagt, dass er, wenn er sich nicht so viel mit Politik und Regieren beschäftigt hätte, er einen sichereren Pinselstrich gehabt hätte.

Hier fängt die Geschichte an, spannend zu werden: Gibt es eine Liebesgeschichte zwischen Lady Castlerosse und Winston Churchill? Die Verehrer von Churchill bestreiten das vehement. Wenn es diese love story gegeben hat, dann ist sie zuende, als Lavery 1938 das Palm Springs Bild malt. Ihre Ehe mit dem Viscount ist auch gerade zuende. Den Titel Viscountess darf sie aber nach der Scheidung behalten. Was nach diesem Sommertag kommt, an dem sie die Beine im Wasser baumeln lässt, ist ein langsamer und stetiger Niedergang eines It-Girls mit schönen Beinen.

Dass sie aus New York mitten im Krieg einen Flug mit einer Boeing Clipper nach London bekam, dafür hatte der Premierminister Winston Churchill gesorgt. Nicht aus Erinnerung an die alte Liebe. Er hatte Angst, dass sie der amerikanischen Klatschpresse etwas über die Sommer im Chateau de l'Horizon erzählen könnte. Ihr ehemaliger Ehemann, inzwischen der sechste Earl of Kenmare, hatte sie von der Waterloo Station abgeholt. London war verdunkelt, er erkannte sie an der Stimme und ihrem Parfüm. Da sah er noch nicht, wieviel sie von ihrer Schönheit eingebüsst hatte.

Sie dinierten im Dorchester, aber sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen. Sie nahm sich ein Zimmer im Dorchester, wo sie schon einmal da war. Bezahlen hätte sie es nicht können, sie hatte kein Geld mehr, ihre Brillanten hat sie in New York ins Pfandhaus getragen. Wenige Geschichten von Frauen, die sich nach oben schlafen, haben ein happy ending. Sie schüttet sich auf ihrem Zimmer einen Drink ein und kippt all ihre Schlaftabletten in das Glas. Man findet sie am nächsten Tag, bringt sie in das St Mary’s Hospital in Paddington, aber man kann nichts mehr für sie tun. Es gibt ein Gerücht, dass Lady Clementine Churchill dies Bild, das ihr Mann von Doris malte, verbrannt hätte. Aber das stimmt nicht, es hängt immer noch in Chartwell.

Diese schöne Frau mit den schönen Beinen, die hier neben dem jungen Prince Philip sitzt, hat auch den Namen Delevingne. Sie hat 1937 den Bruder unserer femme fatale geheiratet. Angela Cara Delevingne, die aus einer Adelsfamilie kommt, wird sich nicht nach oben schlafen. Sie wird ein Leben ohne Skandale führen und einhundertzwei Jahre alt werden. Ihre Enkelinnen, die Poppy und Cara heißen, werden berühmt und sind ständig in den Schlagzeilen, weil sie Models oder It-Girls oder was weiß ich sind. Sie sind auf jeden Fall das, was Kate Moss einmal war. Ihre Großtante Doris wäre sicher stolz auf sie.

Wenn Sie alles über die demimondaine, oder wie immer wir sie bezeichnen wollen, wissen möchten, dann lesen Sie The Mistress of Mayfair: Men, Money and the Marriage of Doris Delevingne von Lyndsy Spence. Sie können natürlich auch in diesem Blog in den Posts Lady Emma Hamilton, les grandes horizontales, Demimonde und Christine Keeler lesen, das sind alles ähnliche Lebenswege.