Freitag, 19. Juli 2024

Ellen Andrée: nue et habilée

Der Maler Edgar Degas wurde heute vor hundertneunzig Jahren geboren, das wäre ein Grund, über ihn zu schreiben. Was ich aber nicht tun werde, weil ich ihn nicht mag. Weshalb ich ihn nicht mag, das steht in dem Post Edgar Degas. Und auch in dem Post Ratten sage ich nichts Nettes über ihn. Dieses Bild wird immer mit dem Titel L'Absinthe zitiert, original hieß es Dans un Café. Das grünliche Zeug, das die Dame vor sich hat, ist Absinth, ein Getränk, das Baudelaire in seinem Gedicht →Le vin des chiffonniers den Wein der Bettler, genannt hat. Die Dame trinkt in Wirklichkeit keinen Absinth, der Herr neben ihr wohl schon. Es ist der Maler Marcellin Gilbert Desboutin, der neben der Schauspielerin Hélène (oder mit ihrem Künstlernamen Ellen) Andrée sitzt. Die war über das Bild überhaupt nicht glücklich, fünfzig Jahre später hat sie gesagt: Je suis devant une absinthe. Desboutin devant un breuvage innocent, le monde renversé, quoi ! Et nous avons l’air de deux andouilles. Das ist es, die beiden sehen aus wie Idioten, eine Nutte und ein Penner. Soll das die Bohème sein oder nur die Demimonde?

Als Degas das Bild malte, war Ellen Andrée zwanzig Jahre alt. Sie war Schauspielerin, war aber auch das Modell für viele Maler. Sie hat für Degas, Manet und Renoir (und andere) Modell gesessen. Die Maler liebten sie, nicht weil sie besonders schön war, sondern weil sie lange in der Position sitzen oder stehen lonnte, die der Maler gerne haben wollte. Die Wikipedia hat eine schöne Seite für die Schauspielerin, mit vielen Bildern. Hier ist sie das Modell für Édouard Joseph Dantans Bild Un Moulage sur Nature. Das ist eins der wenigen Male, wo sie nackt posiert. Das zweite Bild mit der nackten Ellen habe ich natürlich auch, es war ein Bild, dass 1878 ein Pariser Skandal war.

Das Bild Rolla, das Henri Gervex gemalt hat, war schon zweimal in diesem Blog, einmal in Ratten und zum zweiten Mal in les grandes horizontales. Das Bild Rolla hat etwas mit einer Verserzählung von Alfred de Musset zu tun, in der der Lebemann und Wüstling Jacques Rolla gerade Sebstmord begehen will. Er hatte sich in die junge Marie (die hier auf dem Bett liegt), verliebt. Für die kleine Marie war die Prostitution eine Flucht aus der Armut. Ich zitiere einmal die passende Stelle und dann haben wir das Bild besser verstanden:
 
»Was mit mir ist?« sprach er – »beim Himmel, liebe Kleine,
Weißt du denn nicht, daß ich seit heute Nacht ruiniert?
Das weiß ja alle Welt! – Drum muß ich sterben gehen,
Und kam die Nacht hierher, noch einmal dich zu sehen.«
»Ja hast du denn gespielt?« – »O nein, ich bin ruinirt!«
»Ruiniert?« frug sie; und wie zur Statue gerührt,
Ließ sie den vollen Blick starr auf der Decke ruhn –
»Ruiniert? Ruiniert? Hast du denn keine Mutter? Hör!
Verwandte? Keinen Freund? Auf Erden niemand mehr?
Und tödten willst du dich? Weshalb willst du es thun?«
Vom weichen Kissen hob plötzlich das Haupt Marie,
Und süßer glomm ihr Blick als wie in allen Tagen.
Es bebte ihr der Mund im Drang von tausend Fragen,
Doch keine wurde laut – nur schluchzend neigte sie
Ihr Angesicht auf seins zu einem langen Kuß. –
»Jakob – zürnst du, wenn ich um etwas bitten muß?«
So schluchzte sie – »du weißt, Jakob – Geld hab ich nie –
Denn was du mir auch gabst, nahm mir die Mutter ab –
Jedoch – dies Halsband hier – 's ist Gold – soll ich's verkaufen?
Du nimmst das Geld und spielst – laß, Jakob – ich will laufen ....«
Ein mattes Lächeln war die Antwort, die er gab;
Drauf zog ein Fläschchen er hervor, trank's langsam leer,
Neigte sich über sie und küßte ihren Schmuck.
Dann sank auf ihre Brust sein Haupt mit leisem Druck –
Und als Marie es hob, da war es kalt und schwer.
Durch diesen keuschen Kuß ließ er die Seele scheiden,
Und, einen Augenblick, hatten geliebt die Beiden.

Der Salon hatte das Bild 1878 schon angenommen, aber kurz vor der Ausstellungseröffnung ließ der Direktor das Bild von der Wand nehmen. Weil es unmoralisch sei. Das Moralische ist ja bei der Aktmalerei immer ein Problem. Dass es hier gerade Sex gegeben hat, das ist uns klar. Den Spazierstock des Herrn, der zwischen ihrer Unterwäsche auftaucht, haben die Betrachter als Penissymbol verstanden: L'attitude d'abandon de cette nudité voluptueuse, à laquelle la chemise ouverte de l'homme fait écho, suggère, sans équivoque, l'ivresse sensuelle d'une nuit d'amour que conforte au premier plan, telle une nature morte, l'amoncellement de dessous féminins - corset rouge doublé de blanc, jarretière de soie rose et jupon empesé - dans lesquels s'enchevêtrent la canne et le chapeau haut de forme de l'amant, sagt Sophie Barthélémy, die Direktorin des Musée des Beaux-Arts de Bordeaux, dazu. 

Und Betrachter hat das Bild gehabt. Zwar nicht im Salon, aber für drei Monate im Schaufenster eines Kunsthändlers in der Rue de la Chaussée d’Antin. In einem Interview hat Gervex 1924 gesagt: Manet, Degas, Stevens, die Alten und die Jungen, alle drängten sich vor dem Gemälde, das schon berühmt war, bevor es den Salon betrat... Doch kaum hing es an der Wand, als Turquet, der Superintendent des Beaux-Arts, unterstützt von der Jury des Salons, den brutalen Befehl gab, es aus Gründen der Unmoral zu entfernen... So kam es, dass ein Kunsthändler mir anbot, 'Rolla' in seinem Geschäft in der Chaussée-d'Antin auszustellen... Ich nahm, wie Sie sich vorstellen können, dankbar an, und tatsächlich gab es drei Monate lang einen ununterbrochenen Besucherstrom mit einer Reihe von Kutschen, die sich bis zur Oper stauten. Eine von Gervex angefertigte Kopie des Bildes mit der nackten Ellen Andrée brachte bei Sothebys im Jahre 2016 den erstaunlichen Preis von 1,38 Millionen Pfund, der Schätzwert hatte bei 400.000 bis 600.000 Euro gelegen. Vielleicht kam dieser Preis zustande, weil es gerade im Musée d’Orsay die Ausstellung Splendeurs et misères: Images de la Prostitution, 1850-1910 gegeben hatte, in der das Original von Gervex auch zu sehen war. Dies Bild von Manet, das La Parisienne heißt, zeigt uns Ellen Andrée (die auch Gervex gerne als Modell nahm) vollständig bekleidet. Manet hat sie mehrfach gemalt, nie nackt.

Sophie Barthélémy sagte zu sensationellen öffentlichen Ausstellung des Bildes von Gervex, die zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führte: On venait y respirer le même parfum de scandale qui avait accompagné un an plus tôt la subversive 'Nana' de Manet. Das mit dem respirer le même parfum de scandale finde ich sehr schön ausgedrückt. Manets Nana besitzt die Hamburger Kunsthalle, 1973 stand das Bild im Zentrum der Ausstellung Nana – Mythos und Wirklichkeit. Das schöne Katalogbuch von DuMont kann man antiquarisch noch für wenige Euro finden. Auch so gut wie garnichts kostet das Buch Monet und Camille: Frauenportraits im Impressionismus, das ich schon in dem Post Camille in grün erwähnt habe. Noch mehr zu dem Thema findet sich in dem Buch Painted Love: Prostitution in French Art of the Impressionist Era von Hollis Clayson (hier im Volltext).

Ellen Andrée, hier von Degas gemalt, ist siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Sie hat alle Maler, die sie malten, überlebt. Der Skandal um das Bild Rolla begünstigte ihre Karriere als Theaterschauspielerin. Und zum Schluss habe ich in diesem Post, der es geschickt vermeidet, den spießigen Kleinbürger und virulenten Judenhasser Degas zu erwähnen, noch ein wunderbares Gedicht von Mascha Kaléko, das zu dem Bild von Gervex passt. Er heißt Der nächste Morgen: 

Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich
Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.
Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:
Es klang nicht schön. Mir schien es jetzt erklärlich,
Dass Eheleute nicht in Liebe glühn.
Ich lag im Bett. Du blicktest in den Spiegel,
Vertieftest ins Rasieren dich diskret.
Du griffst nach Bürste und Pomadentiegel.
Ich sah dich schweigend an. Du trugst das Siegel
Des Ehemanns, wie er im Buche steht.

Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!
Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauss,
Die Gläser, die wir gestern abend leerten,
Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.
... Das alles sieht am Morgen anders aus.
Beim Frühstück schwiegst du. 
(Widmend dich den Schrippen.)
Das ist hygienisch, aber nicht sehr schön.
Ich sah das Fruchtgelée auf deinen Lippen
Und sah dich Butterbrot in Kaffee stippen –
Und sowas kann ich auf den Tod nicht sehn!

Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine.
Es roch nach längst getrunkenem Kaffee.
Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.
Mir ahnte viel –. Doch sagt ich nur das Eine:
"Nun ist es aber höchste Zeit! Ich geh..."
 

Donnerstag, 4. Juli 2024

la dame au coussin rouge

Der französische Maler Charles Auguste Émile Durand, der allgemein Carolus-Duran genannt wird, wurde am 4. Juli 1837 in Lille geboren. Er hatte sich auf die Portraitmalerei spezialisiert. Dies Bild hier ist kein Selbstportrait, es ist von einem seiner Schüler. Nicht von irgendeinem seiner vielen Schüler, es ist von seinem berühmtesten Schüler, dem Amerikaner John Singer Sargent. Der hier mit blaue Vasen einen schönen Post hat, sein Biograph Stanley Olson hat auch schon einen Post. Was wir auf diesem Bild nicht richtig sehen können, ist die Widmung to my dear master Mr Carolus-Duran, his affectionate student John S. Sargent 1879, die Sargent oben rechts in das Bild geschrieben hat. Dass sein Lehrer gerade die Ehrenlegion bekommen hat, das hat Sargent auch nicht vergessen, das ist der kleine rote Fleck im Knopfloch vom Revers.

Carolus-Duran ist im Gegensatz zu seinem Schüler nicht unbedingt der Maler für die ganz große Welt, er will die Dargestellten nicht schöner machen, als sie sind. Schliesslich ist er Realist. Wenn Damen ganz wunderschön sein wollen, dann gehen sie zu Franz-Xaver Winterhalter. Diese junge Dame, die sich Alice de Lancey nennt, geht zu Carolus-Duran. Sie heisst nicht Alice de Lancey, und sie ist auch keine Comtesse. Sie war eine Julia Tahl aus Baltimore. Heiratete  einen Mr Eardley-Wilmot, mit dem sie (und mit großer Dienerschaft, wie die Passagierliste des Dampfers verrät) nach London zieht. Die Ehe war aber schnell wieder geschieden. Aber wenn man mit fünfundzwanzig Paris erobern will, wird ja wohl eine kleine Namensänderung erlaubt sein. Das Ergebnis der Sitzungen beim Maler war 1877 im Pariser Salon zu sehen, da war sie la dame au coussin rouge. Es ist eine detailverliebte Malerei, von der Blume im Haar bis zu den goldenen Absätzen der Schuhe. Das Bild ist sicher für die Damenmode der Zeit sehr interessant, sonst für wenig.

Kunsthistoriker haben auf die Nähe des Bildes zu dem Bild hingewiesen, das François Boucher 1743 von seiner Ehefrau gemalt hat. Man kann da einige Übereinstimmungen finden, zum Beispiel bei den Schuhen, aber es ist doch ein ganz anderes Bild. Boucher malt seine Ehefrau (die auch vor der Ehe sein Modell war), Carolus-Duran malt eine Dame von zweifelhaftem Ruf. Als er sie malt, ist sie gerade die Maitresse des Barons Antoine d'Ezpeleta, den er auch malen wird. Er malt auch den Hund der Dame, der Chinois heißt (steht so auf dem Bild). Wenige Jahre später wird unsere Alice eine Affäre mit dem Bankier Nissim De Camondo haben, den sie durch den Pressezaren Arthur Meyer kennengelernt hatte. Die Liaison ist ebenso wie das Bild von 1877 ein Pariser Skandal. Alice hatte sich, von welchem Geld auch immer, einen kleinen Landsitz in Louveciennes gekauft, der einstmals Madame du Barry gehörte. Edmond de Goncourt schrieb dazu gehässig: l'intérieur ironique de Louveciennes, où vécut Mme du Barry et où vit aujourd'hui Mme de Lancey et où le banquier Camondo remplace Louis XV. 

Wenn wir beim ersten Betrachten des Bildes den Eindruck hatten, dass das alles ein wenig ordinär und nuttig ist, dann hatten wir recht. Lesen Sie mehr zu den Damen im Paris des 19. Jahrhunderts in les grandes horizontales und Demimonde. Das 1,57 x 2,11 Meter große Bild hängt heute im Petit Palais, Alice de Lancey hatte es in ihrem Testament 1913 dem Museum vermacht. Ich weiß immer noch nicht, ob sie wirklich so gemalt werden wollte, wie Carolus-Duran das getan hat. Kritiker sagten über das Bild, dass es einen Höhepunkt der Geschmacklosigkeit darstelle. Carolus-Duran kann ja Frauen auch anders malen, wie hier Léocadie Bogaslawa Zelewska, die Gattin des Journalisten Henry Fouquier. Sie war eine der schönsten Frauen von Paris, Carolus-Duran hat sie mehrfach portraitiert. Vielleicht wollte der Maler mit dem Bild der Mademoiselle de Lancey auch so einen kleinen netten Skandal haben, weil so etwas gut für das Geschäft ist. 

Das war bei seinem Schüler John Singer Sargent nicht anders, sein Skandal mit dem Bild der Madame X war noch einige Dimensonen größer. Sargent und sein schwedischer Kollege Anders Zorn müssen die Millionärgattinnen des Gilded Age und des französischen Kaiserreichs malen, das ist ihr Geschäft. All diese Damen, die in den Posts Orchideen und dem Post Une fillette d’un blond roux erscheinen, wollten ja mal von Gesellschaftsmalern gemalt werden. Anders Zorn lässt sich einen roten Anzug schneidern und kauft sich einen Rolls-Royce. Und malt, zuück im Schweden, pralle nackte Schwedinnen beim Mittsommerfest. Carolus-Duran malt auch Frauen, die wir nicht kennen, wie diese rothaarige Dame hier. Ebenso wie das Bild la dame au coussin rouge und das Bild von der polnischen Gattin Fouquiers, ist es 1876 entstanden. Aber es lebt heute noch. Das Zuckerpüppchen mit dem coussin rouge wirkt dagegen ziemlich leblos. 

Samstag, 22. Juni 2024

Anouk Aimée ✝

Françoise Dreyfus war vierzehn, als sie in dem Film La Maison sous la mer die Rolle eines Mädchens namens Anouk spielte. Sie behielt diesen Vornamen. Die nächste Namensänderung verdankte sie Jacques Prévert, der das Drehbuch von Les amants de Vérone extra für sie geschrieben hatte. Er schlug ihr den Namen Aimée, die Geliebte, vor: Aimée parce que tout le monde l'aime. Der Filmstar Anouk Aimée (hier mit Serge Reggiani) war geboren. 

Im Jahr davor hätte sie schon an der Seite von Arletty berühmt werden können, aber Marcel Carné, der den Klassiker Les Enfants du Paradis gedreht hatte, drehte La Fleur de l'âge nicht zu Ende. Bevor sie Anouk Aimée wurde und so aussah wie hier in La Dolce Vita, wählte sie im Krieg den Namen Françoise Durand. Der Name ihrer katholischen Mutter bewahrte sie vor dem Tragen des gelben Judensterns. Dass man mit dem Namen Dreyfus im französischen Filmgeschäft nichts werden kann, das wusste die Familie. Sie wussten auch, dass sie mit dem mittlerweile rehabilitierten Hauptmann Dreyfus nicht verwandt waren. Der lebte übrigens noch, als Anouk Aimée geboren wurde.

Anouk Aimée ist gerade im Alter von zweiundneunzig Jahren gestorben; in dem Alter starb auch Jean-Louis Trintignant, mit dem sie in Un homme et une femme zu sehen war. Den Film kennen wir alle, und wir lieben sie in diesem Film. Sie war als beste Schauspielerin für den Oscar nominiert, aber es blieb leider bei der Nominierung. Immerhin bekam sie für ihre Rolle 1967 den Golden Globe und 1968 den British Academy Film Award. Mit diesem Bild ist sie 1961 in dem Film Lola, das Mädchen aus dem Hafen von Jacques Demy zu sehen, wo sie in Spitzencorsage so wunderbar ✺C'est moi, c'est Lola singt. Der Film ist ein wenig untergegangen, erst später haben Kritiker erkannt, dass dieser Film auch zur Nouvelle Vague gehörte. Aber die Nouvelle Vague war an der schönen Anouk nicht interessiert. Dabei hätte sie hervorragend in die Filme von François Truffaut gepasst.


Vieles an Filmen vor Un homme et une femme haben wir vielleicht nicht gesehen, also Les Amants de Montparnasse, wo sie die Rolle der Jeanne Hébuterne spielt. Damals ist sie vierundzwanzig, aber zwei Jahre später ist sie ein wirklicher Star. Weltweit weg von einem Film wie Ich suche Dich, wo sie an der Seite von O.W. Fischer 1956 in einem deutsche Melodram mitspielte. Es gab Rezensionen, die grottenolmschlecht waren, aber O.W. Fischer hatte es etwas Nettes über sie zu sagen: Mademoiselle Aimée ist ein Wunder - strahlend schön und eine begnadete Künstlerin. 

Die Filmhistorikerin Ginette Vincendeau hat über Aimées Filme gesagt: they established her as an ethereal, sensitive and fragile beauty with a tendency to tragic destinies or restrained suffering. Wir brauchen uns nur das Photo im oberen Absatz anzuschauen und wissen, dass der Satz stimmt. Aber reicht eine sensitive and fragile beauty with a tendency to tragic destinies or restrained suffering aus, um einen schrottigen Film wie Der goldene Salamander zu retten? Das Filmplakat spricht doch Bände. Es ist ihr erster englischer Film, sie war achtzehn, sie wollte ins Filmgeschäft. Sie wird in ihrem Leben in siebzig Filmen zu sehen sein, viele dieser Filme sind leider wie Ich suche Dich und Der goldene Salamander.

Der schlechteste Film, in dem sie mitspielte, war wahrscheinlich Justine, der in Deutschland Alexandria - Treibhaus der Sünde hieß. Eine Literaturverfilmung nach Lawrence Durrells Justine aus seinem Alexandria Quartett, das sicher kaum verfilmbar war. Trotz Starbesetzung, zwei Regisseuren und der Anwesenheit des Autors bei den Dreharbeiten, ist an diesem Machwerk nichts zu retten, Anouk Aimée war todunglücklich bei den Dreharbeiten. 

Dirk Bogarde, der sie schon als Siebzehnjährige kannte (weil sie beide bei Rank unter Vertrag waren), beschreibt sie bei den Dreharbeiten von Justine als wan and sad for most of the time, since she had suddenly realised, too late, that her decision to accept Justine had most probably been, for one reason or another, a serious error of judgement on her part and was now feeling abandoned. Für ihn bleibt von den Dreharbeiten ein Bild haften: a tiny figure sobbing in the back of a Rolls. Die katastrophalen Dreharbeiten haben auch ein Gutes für Anouk, sie lernt Albert Finney, den sie 1970 heiratet. Es war ihre vierte Ehe. Sie blieb mit ihm fünf Jahre in London, in denen sie keinen Film drehte, sie drängelte sich nicht mehr nach Rollen. Dann lernte sie bei einer Party den elf Jahre jüngeren Ryan O'Neill kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick, sie hatte zwischen ihren Ehen immer wieder Affären. Und zwischen Ehe und Affären lagen auch lange Zeiten der Depression. Dirk Bogarde sagt noch etwas Interessantes über die Frau, die bei ihm häufig Gast in seinem Landsitz Bendrose war und topless in seinem Swimming Pool schwamm: She is never so happy as when she is miserable between love affairs. Finney zog ins Dorchester Hotel, Anuk Aimée in die Schickeria Gegend Knightsbridge. Die Ehe wurde 1978 geschieden. Wir kennen Albert Finney aus Tom Jones oder an der Seite von Audrey Hepburn in Two for the Road. Und an der Seite von Julia Roberts in Erin Brockovich.

Für Federico Fellini war Anouk die beste Schauspielerin der Welt, als er ihr eine Rolle neben Marcello Mastroianni in La Dolce Vita anbot. Bei den Dreharbeiten war Federico Fellini längst klar, dass er die beiden auch in dem nächsten Film Achteinhalb wieder haben wollte. Mehr oder weniger in den Film gerutscht war Christa Päffgen aus Köln, allerdings nicht unter diesem Namen. Sie nannte sich jetzt Nico (sie hat hier natürlich schon einen Post). War blond, kalt wie Eis. Sie sah aus, als wäre sie am Bug eines Wikingerschiffs über den Atlantik gekommen, hat Andy Warhol, in dessen Band Velvet Underground sie sang, über sie gesagt. 

Nico war jetzt eine Ikone der Popkultur (hier ist sie mit Marcello Mastroianni zu sehen). Während der Dreharbeiten zu La Dolce Vita sagt Anouk Aimée zu Nico: Es ist eigenartig, daß Sie den Namen Nico tragen. Mein Ehemann hieß so. Wir sind jetzt geschieden. Er war Grieche und unterhielt in Paris einen Nachtclub. Das ist der Augenblick, in dem Nico mucksmäuschenstill ist. Denn sie kennt diesen Nico. Der war der Lover von dem Photographen, der sie entdeckte und ihr den Namen seines Ex-Lovers gab. Und eine Affäre hatte sie auch mit dem griechischen Nico. Das klingt jetzt wie eine Szene aus einer schlimmen Schmonzette à la Rosamunde Pilcher, aber solche Drehbücher schreibt das Leben manchmal.  

Claude Lelouch, ein Spätling der Nouvelle Vague, macht das wieder gut, was seine Kollegen verpasst haben. Er holt sie aus dem internationalen Filmgeschäft wieder in den französischen Film zurück und gibt ihr nach Un homme et une femme (1966) auch im Alter noch schöne Rollen. In Filmen wie Si c'était à refaire (1976), Un homme et une femme: Vingt ans déjà (1986), Hommes, femmes: mode d'emploi (1996), Ces amours-là. (2010) und ✺ Les Plus Belles Années d'une vie (2019). Der letzte Film war auch ihr letzter Auftritt vor der Kamera.

Hommes, femmes: mode d'emploi mochte ich sehr, ich habe den Film schon in den Posts Michel Piccoli und Maja Maranow erwähnt. Es ist, wenn man so will, wieder die gleiche Geschichte, die Lelouch in seinem Kino der Gefühle und Emotionen erzählt. Das hat er selbst gesagt, dass er in seinen Filmen nur eine einzige Geschichte erzählt, die aber fünfunddreißigmal. Anouk Aimée a changé ma vie, hat Lelouch nach ihrem Tod gesagt. Und er sagte auch: Elle a été ma compagne de route, mon amie de toujours. Wir werden Anouk Aimée, die Vielgeliebte, nicht vergessen, es gibt ja DVDs. Und ich habe für Sie heute in voller Länge: Lola, das Mädchen aus dem HafenUn homme et une femme und hommes, femmes: mode d'emploi  

Donnerstag, 13. Juni 2024

Françoise Hardy ✝

Es ist sechzig Jahre her, dass ich meine erste Françoise Hardy Platte kaufte. Es war Oktober, aber hier im massif central war noch ewiger Sommer. Ich hörte aus einem kleinen Plattenladen Musik, die ich nicht kannte. Es war definitiv nicht Juliette Gréco, für die ich zwei Jahre zuvor mein ganzes Taschengeld zusammenkratzte, um sie bei ihrem ersten Auftritt in Deutschland in Berlin zu hören. Dies war etwas ganz Anderes, aber irgendwie auch schön. Ich ging in den Laden, um die Platte zu kaufen. Drei herumlungernde Jugendliche in Lederjacken, die wie schlechte Kopien von Johnny Halliday aussahen, guckten mich mit offenem Mund an. Erst in dem Augenblick wurde mir klar, dass eine deutsche Uniform hier nicht unbedingt zum Alltag gehört. Die Verkäuferin sah mich etwas skeptisch an. Ich sprach zwar Französisch, aber ich trug diese Uniform, die sie nicht kannte. Ich bin der dritte aus unserer Familie in einem halben Jahrhundert, der in Uniform in Frankreich ist. Meine Brigade ist hier für drei Monate auf einem französischen Truppenübungsplatz, wir sind hier die ersten deutschen Soldaten seit 1945. Ich kaufe die Platte, die gerade läuft. Es ist Tous les garçons et les filles de mon âge. Die Platte von Françoise Hardy habe ich immer noch.

Françoise Hardy ist gerade im Alter von achtzig Jahren gestorben. Sie hat hier den kleinen Post Tous les garçons et les filles de mon âge und wird in vielen Posts erwähnt. Bei YouTube gibt es als Re-Upload die schöne Dokumentation, die arte 2018 gesendet hatte. Françoise Hardy war ein Teil meines Lebens, sie wird es immer bleiben.

Donnerstag, 16. Mai 2024

Hannelies Taschau zum Geburtstag (nachträglich)

 

Die deutsche Schriftstellerin Hannelies Taschau ist im letzten Monat siebenundachtzig geworden. Da hätte ich gratulieren und ein Gedicht von ihr einstellen sollen, weil hier ja der Poetry Month war. Das habe ich leider verschusselt. Aber es gibt in diesem Blog seit 2013 schon den Post Hannelies Taschau, der viele tausend Leser gefunden hat. Und sie wird in acht weiteren Posts erwähnt. Ich gratuliere mal nachträglich zum Geburtstag und stelle ein Gedicht hier ein, das sie 1969 für ihren Freund Nicolas Born geschrieben hat:

Freunde tragen 
schwer am Wohlbehagen ihrer 
Freunde
die zurückgezogen wie Piloten
lange aufsteigend
winken von einer Hochebene
mit bloßen Händen
Und in Gesellschaft von Wildhütern
und Teerkochern
ihren Beruf überleben

Ich habe beinahe alle Gedichtbände von Hannelies Taschau. Die sind leider teuer, manche sogar sehr teuer. Kann dreistellig sein, wenn es von der Eremiten Presse kommt und aufwendig gedruckt ist. Viele ihrer Gedichtbände hatten nur eine kleine Auflage; von Weg mit dem Meer gibt es, glaube ich, nur tausend Exemplare. Ihre Romane kann man ganz billig bekommen. Ab 25 Cent bei booklooker. Das ist eine erstaunliche Sache. Ich suchte noch nach ihrem ersten Gedichtband, der 1969 beim Christian Wegner Verlag im Hamburg erschienen war, ein schmales Bändchen. Ich fand den Band endlich für sechs Euro bei buchfreund, das ist so etwas Ähnliches wie das ZVAB. Ich kaufte das Buch, bezahlte per PayPal und bekam eine Bestätigung über den Kauf. Meine Bestellung wurde weitergeleitet an das Antiquariat Uwe Berg. Kannte ich nicht, guckte ich aber mal im Netz nach. Da packte mich blankes Entsetzen. Das sind Rechtsradikale, die die ganze Nazi Literatur auf Lager haben. Alle Reden von Adolf Hitler lieferbar. Unglaublich. Wie sich der Gedichtband von Hannelies Taschau in diesen Laden verirrt hat, das weiß ich nicht. Die haben glücklicherweise auch kein zweites Buch von ihr.

1989 hat es mal einen Brandanschlag auf das Bergsche Antiquariat gegeben, der nie aufgeklärt wurde. Das erinnert mich ein wenig an die rechtsradikale Buchhandlung Nordwind hier in der Wilhelminenstraße. Da hat mal jemand in der Nacht ein ganzes Fuder Mist vor der Buchhandlung von Dietmar Munier abgeladen. Fand ich sehr witzig, ist aber auch nie aufgeklärt worden. Das Versandantiquariat Uwe Berg und Muniers Nordwind sind Einzelbeispiele, aber es gibt viel, viel mehr. Erst im letzten Jahr war der Grossist Libri (vorher Lingenbrink) bereit, rechtsradikale Titel in seinem White Label Shop zu sperren.

Hannelies Taschau hat nun nichts, aber auch gar nichts mit dieser Buchhandlung zu tun, bei der ich ihren ersten Gedichtband kaufte. Wahrscheinlich würde Sie über die Geschichte lachen. Oder ein Gedicht darüber schreiben. Für die Demokratie ist sie ja immer eingetreten. Auf der Rückseite des Buches ist ein schönes Photo von ihr, das sich leider nicht im Internet findet. Ein Bild des Buches gibt es auch nicht im Internet. Ich stelle hier mal ein anderes Jugendbild ein. Als der Schriftsteller W. Christian Schmitt sie kennenlernte, sah sie wahrscheinlich so aus. In seiner Autobiographie Willkommen in der Aula der Erinnerungen schreibt er über sie:

Hannelies Taschau (Jg. 1937) sagte am Telefon: 'Wir treffen uns vorm Bahnhof, Erkennungszeichen knallgrüne Bluse, blaue Hose, und am besten gehen wir irgendwohin eine Tasse Kaffee trinken...'. Also reiste ich nach Hameln, um mit dem Mitglied des 'Redaktionskomitees der Bertelsmann Autoren Edition' über die Autorin, ihre Arbeit und 'das Komitee' zu sprechen. In der HAZ schrieb ich unter der Überschrift 'Es ist ja alles ganz anders' am 12. Juli 1973 über die etwas kompliziert verlaufende Begegnung u.a.: Die Sache ist gebongt. Hannelies Taschau also: lässig, locker, spontan, sporadisch. Wer ihre Bücher kennt, kennt schon fast die ganze Hannelies Taschau, die Tabubrecherin, die Reporterin, das Agitprop-Mäuschen, die Kämpferin an der täglichen Demokratiefront, die Chiffrenschreiberin, die Unterhalterin, die Sprach-, Laut-, Wortverliebte. Bisweilen hat sie das Bedürfnis, all das, was sie unmittelbar entdeckt, weiterzugeben. Unbekümmert, nicht genau bedenkend, dass es vielleicht schon bekannt sein könnte. Als die Wohmann seinerzeit mit dem Schreiben anfing, hätte man sich die Taschau als deren literarische Schwester vorstellen können. Die Wohmann ist sich und ihrem Stil treu geblieben. Hannelies Taschau hat sich auf den langen Marsch zu sich selbst begeben und Phasen herrlich belangloser Verklärungen durchlaufen. Das alles scheint vorbei. Hinter sich gelassen hat sie auch einen Teil der spektakulären Erfolge und Kritiken anlässlich ihres Romans 'Die Taube auf dem Dach'. Die FAZ schrieb, über den vierblättrigen Klee lobend: 'Die Autorin registriert im gleichen Atemzug Wesentliches und Unwesentliches... registriert sachlich und unbewegt wie eine Filmkamera'. Und Nicolas Born schrieb über Taschaus Gedichte: 'Sie sind ein Muster der Unruhe. Bedeutungen zwischen den Zeilen gibt es nicht'.... Gut ein halbes Jahr später erreicht mich mit Datum vom 11. Februar 1974 ein Brief von Hannelies Taschau aus Hameln, in dem u.a. in vorwurfsvollem Ton zu lesen ist: 'Sieht man sich nun mal generell Ihre Interviews an, fällt einem auf, dass Sie gern, wohl der Einfachheit halber, drei, vier sog. Zitate der Interviewten aneinanderreihen, allenfalls durch ... verbunden, die offensichtlich nicht zusammengehören. Sie machen sich ́s überhaupt in vielem zu leicht...'.

Auf dem Buchdeckel ihres ersten Gedichtbandes, unter dem schönen Photo dieser schönen Frau, stehen einige Zeilen von Nicolas Born. Der ebenso wie sein Freund Rolf Dieter Brinkmann ganz früh gestorben ist: Hannelies Taschau verläßt sich nicht auf ihre Sensibilität. Auf ihre Aufmerksamkeit kann sie sich verlassen. Ihre Gedichte sind moderne Genrebilder, kreisen um entfremdetes Interieur, zeigen gestörte Beziehungen zwischen Menschen, das Zumutbare und das Unzumutbare, reflektieren Abhängigkeit, Mißtrauen, Angst, legen sich an mit privaten und öffentlichen Ärgernissen. Sie sind weder Abhub noch Endprodukt von Erfahrungen, sie sind diese Erfahrungen selbst.

Ich habe zum Schluss noch ein kleines böses Gedicht von Hannelies Taschau, das den Titel Objekt hat:

Er schläft leicht ein
du mußt ihm die Augen offenhalten
Er ißt gern lange
Wenn man ihn kalt anfasst schrumpft
er
aber das kennst du
das ist bei allen gleich
Nimm ihn bis Freitag kannst du ihn
haben
zum Wochenende hätte ich ihn
gerne zurück

Das Gedicht findet sich in dem Band Gefährdung der Leidenschaft, der 1984 bei Luchterhand erschien. Ist aber auch in Wundern entgehen: Gedichte 1957–1984 (auch bei Luchterhand) mit drin. Das wäre ein Buch, mit dem man anfangen könnte, wenn man ihre Gedichte lesen will. Ist auch nicht so teuer, gibt es bei booklooker sehr preiswert. Das Wikipedia Lexikon spendiert Hannelies Taschau mal gerade acht mickrige Zeilen. Ein klein wenig bedeutender ist sie schon. Der Katalog der deutschen Nationalbibliothek verzeichnet neununddreißig Bücher von ihr, der Wikipedia Artikel zehn weniger. Sie hat mit Richard Hey, Uwe Timm und dem Bertelsmann Lektor Andreas Hopf die AutorenEdition bei Bertelsmann hochgezogen. Sie hat Literaturpreise und Stipendien bekommen, und Karl Otto Conrady hat sie in seine Lyriksammlung aufgenommen. Als ich in der Vorlesung von Professor Conrady über den deutschen Expressionismus saß, fing Hannelies Taschau an zu schreiben. Sie wurde in Hamburg geboren, hat aber die Bombardierung Hamburgs nicht erleben müssen, weil die Familie nach Schwaben evakuiert worden war. Sie hat zwei Jahre in Paris gelebt, zwischen zwei Etagen In der Rue Cassette Ohne Stuhl und Tisch. Sie hat viele Jahre im Ruhrgebiet gelebt. Heute lebt sie in Hameln, die Weser kommt in manchen ihrer Gedichte vor. In der Stadtbücherei Hameln hat sie auch zwei Interviews über ihr Leben und ihr Werk gegeben. Sie können diese zwei Gespräche hier hören, dann kennen Sie sie schon ein bisschen besser.

Freitag, 26. Januar 2024

Schwedenmädel

Heute vor hundert Jahren wurde die schwedische Sängerin Alice Babs geboren. Damals hatte sie natürlich noch nicht den Künstlernamen Alice Babs, damals hieß sie Hildur Alice Nilsson. Sie war von klein auf auf der Bühne, und mit vierzehn Jahren konnte man sie zum ersten Mal im Radio hören. Mit fünfzehn hatte sie ihre erste Platte, die ✺Joddlarflickan hieß. Dem Titel sollten noch beinahe achthundert Lieder folgen. 1972 verlieh ihr der schwedische König den Titel einer Hofsängerin (hovsångerska), der bisher nur an Opernsängerinnen verliehen worden war. Jenny Lind hatte den Titel auch einmal gehabt.

1998 kam Alice Babs nach achtzehnjähriger Pause mit der CD Swingtime Again zurück ins Geschäft. Aus dieser Aufnahme können Sie hier It's Wonderful hören. 2002 bekam die Sängerin den europäischen Jazzpreis Django d'Or in der Kategorie Master of Jazz. Ein Jahr später erhielt sie die goldene Illis quorum Medaille, die schon Greta Garbo, Ingrid Bergman und Astrid Lindgren erhalten hatten. Die Jazzsängerin Monica Zetterlund bekam die posthum verliehen. 

Mit sechzehn war Alice auf der Leinwand gewesen, da konnte man sie als singende Schülerin in dem Film Swing it, magistern (Lass es swingen, Professor) sehen. Ich habe den Film hier für Sie. Es ist erstaunlich, welch harmlose Filme man 1940 in Schweden drehte, bei uns sah die Kinolandschaft damals anders aus. Alice Babs heiratete 1944 den Schauspieler Nils Ivar Sjöblom und bekam drei Kinder, ihre jüngste Tochter wurde Popsängerin. Nils Ivar Sjöblom starb 2011 im Alter von zweiundneunzig Jahren. Da hatte Alice Babs noch einige Zeit zu leben, sie wurde neunzig Jahre alt. Aber ihr Leben im Alter wurde durch Schlaganfälle und Alzheimer überschattet.

In den fünfziger Jahren war die Schwedin nach Deutschland gekommen. Sang Lieder wie Ein Mann muß nicht immer schön sein und Du, nur du du du allein. Und mit Paul Kuhn In einer kleinen Konditorei. Mit dem sang sie aber auch schon mal Jazz, das sollte man betonen. Bei Erwin Lehn & His Südfunk Tanzorchester hatte sie auch schon gezeigt, dass sie im Swing zu Hause war. Das kam jedoch in Deutschland noch nicht so gut an. Wir hatten sie lieber, wenn sie Ole Dole Dei sang. Sie war Teil dessen, was man die große skandinavische Invasion der fünfziger und sechziger Jahre nennen könnte. Als Nina van Pallandt Mandolinen und Mondschein sang, Vivi Bach ans himmelblaue Mittelmeer mitgenommen werden wollte, und Gitte 'nen Cowboy als Mann haben wollte. 

Das war die Zeit, als wir Ulla Jacobsen in Sie tanzte nur einen Sommer fünf Sekunden nackt sehen konnten. Als Ingmar Bergmans Film Das Schweigen die Nation beschäftigte, und es massenhaft Schwedinnenfilme gab. Die hießen 6 Schwedinnen von der Tankstelle6 Schwedinnen auf Ibiza6 Schwedinnen hinter Gittern und 6 Schwedinnen auf der Alm. Aber da spielten nicht Bergmanns Lieblingsschauspielerinnen wie Bibi Anderson, Harriet Anderson oder Gunnel Lindblom. Da spielten blonde Französinnen wie Marianne Aubert, Jane Baker, Karine Gambier und Brigitte Lahaie die Hauptrollen. Produziert wurden die Streifen von einem Schweizer namens Erwin C. Dittrich. Keine Filmkunstwerke, nur Softpornos. Damit hat der Film Schwedenmädel, mit dem Alice Babs in Deutschland bekannt wurde, nun überhaupt nichts zu tun. Eine Liebesromanze in einem internationalen College in Stockholm zerbricht in der Mittsommernacht zugunsten neuer Bindungen. Liebenswürdige Unterhaltung ohne tiefere Bedeutung. - Ab 14 möglich, schrieb ein Filmlexikon. Das farbige Kinoplakat täuscht ein wenig, Schwedenmädel war ein Schwarzweißfilm.

1958 trat Alice Babs als erste schwedische Kandidatin bei dem 1955 geschaffenen Grand Prix Eurovision in Hilversum an und sang in Nationaltracht ✺Lilla stjärna. Das brachte ihr den vierten Platz. Es war aber auch ein Abschied von all dem, was sie bisher gesungen hatte. Denn sie konnte mehr. Jetzt sang sie elisabethanische Liebeslieder wie zum Beispiel Woeful Heart und sang Bach Choräle. Und Mozarts Exsultate, jubilate. Das ist nun nicht so fetzig wie die Version von Marie FajtováAlice Babs ist bei Bach besser aufgehoben. Sie können auf dieser Seite alles von ihrer Platte aus dem Jahre 1966 hören.

Das waren Ausflüge in die Klassik gewesen, aber in Wirklichkeit machte sie jetzt etwas ganz anderes: sie war Jazzsängerin geworden. Zuerst an der Seite von schwedischen und dänischen Musikern, aber dann an der Seite von Duke Ellington. Der seine Sacred Concerts für sie schrieb, probably the most unique artist hat er sie genannt. Hören Sie einmal in ✺Heaven hinein. Ellington bewunderte ihre Stimme, die über drei Oktaven ging. Mit ihm hatte sie 1963 in Paris die Langspielplatte Serenade to Sweden aufgenommen, vielleicht das Beste, das sie gesungen hat. Billy Strayhorn ist da noch mit drauf, der wenige Jahre später starb.

Alice Babs hatte Ellington verehrt, seit sie zwölf war. Als er 1939 in Stockholm war, wurde sein vierzigster Geburtstag am 29. April den ganzen Tag gefeiert. Das fing schon mit einem musikalischen Ständchen zum Frühstück an, wie wir es hier auf dem Bild sehen. Irgendwann sang dann ein zehnköpfiger weiß gekleideter Mädchenchor. Eine der Sängerinnen war die fünfzehnjährige Alice Babs. Der Bericht über das Jazzkonzert am Abend von Rolf Dahlgren hatte den Titel Negerswing gör succé. So etwas dürfte heute niemand mehr schreiben.

Die Pariser Aufnahme von Serenade to Sweden hat eine seltsame Geschichte. Die Platte war im Frühjahr fertig, sie hätte im Sommer erscheinen können. Erschien aber erst drei Jahre später bei dem neuen Label Reprise. Und war schnell vom Markt verschwunden, angeblich war sie in Amerika gar nicht auf dem Markt gewesen. Serenade to Sweden wurde die seltenste und gesuchteste Duke Ellington Platte, obgleich er den Titel immer noch spielte. So schrieb die New York Times 1973: 

Duke Ellington likes to bring young women to the Newport Jazz Festival. And he knows some interesting ones. At last year's festival, the highlight of his concert at Carnegie Hall was Aura, a dazzling Rumanian beauty with a voice that was astonishing both for its range and its sustained sensuosity. On Sunday night, this time at Philharmonic Hall, Mr. Ellington's special treat, was Alice Babs, a Swedish singer who was the sensation of Mr. Ellington's Second Sacred Concert when he performed it several years ago at the Cathedral Church of St. John the Divine. Miss Babs's range is at least equal to that of Aura, but her voice has a very different quality—clear, clean and sparkling as a running mountain stream. Her superb control and the finesse with which she sustained and shaded notes were immediately apparent as she walked out of the wings vocalizing Mr. Ellington's lovely 'Serenade to Sweden.'

Die Schweden Tournee von 1973, wo Ellington zehn Jahre nach den Pariser Aufnahmen wieder Alice Babs an seiner Seite hatte, war der letzte große Auftritt von Duke Ellington. Die CD dieser Tournee ist noch leicht zu bekommen. Aber es gibt die Serenade to Sweden inzwischen auch wieder. Und seit 2017 zum ersten Mal auch als CD. Aber egal, ob Vinyl oder CD, beide Versionen sind heute noch lieferbar. Aber teuer, sehr teuer. Doch dank des ✺All That Jazz Don Kaart Channel können Sie die Aufnahme jetzt hier hören.


In diesem Blog, der jetzt ins vierzehnte Jahr geht, hat es immer Bach, Mozart und Schubert gegeben. Aver auch immer Jazz. Schon der dritte Post im Januar 2010 hieß JazzDas soll auch so bleiben. Wenn Sie wollen, können Sie dies alles lesen: the best is yet to comela first lady del jazz italianomehr Jazz?Harry BelafonteRickie Lee JonesPlay BachBirdlandCharlie Parker spielt La PalomaMichel LegrandCandy DulferHarry BelafonteRickie Lee JonesMundharmonikaNick DrakeGuldaRosemary ClooneySun RaDexter GordonDon ByasRichard TwardzikLena HorneMonica ZetterlundCantateAimez-vous Brahms?FolksongsTeddy BoysMein DänemarkSempéMarshall McLuhanArnold DuckwitzNicoLou ReedMadeleine PeyrouxDie Harmonie der WeltJean-Louis TrintignantBirdlandP.J. KavanaghImprovisationenSaturnNachtfahrtThe Lady is a TrampLush LifeFehlkäufeFrankieboyJugendkulturPaul KuhnHyperlinkIngeburg ThomsenKultur (neo)Chris BarberLonnie DoneganZickenjazzPhilip LarkinexisMelody'round midnightMademoiselle chante le bluesAnn-MargretAmazing GraceNina van PallandtThe Art of Staying Young and Unhurt