Sonntag, 26. Dezember 2021
Tante Aline
Montag, 1. November 2021
Emily Ruete
Beim Blick in den Kalender las ich, dass am 30. August 1844 Emily Ruete geboren wurde. Emily Ruete, ich hätte ja gleich den Wikipedia Eintrag anklicken können, aber ich wollte mein Gedächtnis testen. Ich wusste, dass ich den Namen kannte, und dass eine abenteuerliche Geschichte daran hing. Und während ich meine Pfeife stopfte - dabei hat man immer die besten Ideen, das wußte schon Sherlock Holmes - sagte mein Gedächtnis plötzlich Gerhard Rohlfs (über den hatte ich ja schon einmal hier geschrieben). Und da war sie wieder, die Geschichte von der Prinzessin aus Sansibar, die einen Hamburger Kaufmann liebt und mit ihm nach Deutschland flieht. Weil sie von einem Christen schwanger ist, dafür wird man in dieser Welt noch gesteinigt. Könnte in dieser Welt heute wieder geschehen. M.M. Kaye, die mit The Far Pavillions (Palast der Winde) berühmt wurde, hatte die Geschichte der Sultanstochter schon in den Roman Trade Wind (Insel im Sturm) eingearbeitet, sie schreit ja auch geradezu danach, als Kitschroman recycelt zu werden.
Emily Ruete ist als Sanyyida Salme, Tochter des Sultans von Oman und Sansibar, am 30. August 1844 in Sansibar geboren worden. Sie ist einem Sultanspalast aufgewachsen und hatte eine unbeschwerte Kindheit. Wie immer Sultanspaläste damals aussehen (das Photo weiter unten ist ja ganz eindrucksvoll). Als ihr Vater stirbt, erbt sie viel (unter anderem einige Gewürznelkenplantagen, damit macht man auf Sansibar damals viel Geld). Zu ihrem Halbbruder, dem neuen Sultan, hat sie ein sehr gutes Verhältnis. Über die kleine Palastrevolution, in die verstrickt ist, wollen wir jetzt mal nicht reden. Der Hamburger Rudolph Heinrich Ruete vertritt (bevor er sich mit Ruete & Co. selbständig macht) die Firma Hansing & Co., die sind neben der Firma O'Swald die einzigen Deutschen auf Sansibar. Sie haben eine Faktorei, sind Reeder und betreiben Bankgeschäfte. Die O'Swalds hießen ursprünglich Oswalds, aber das ist dem Begründer der Dynastie nicht englisch genug, er nennt sich statt Wilhelm Oswald William O'Swald. Ich habe einmal vor Jahrzehnten in einem Hamburger Antiquariat ein Buch mit der Signatur eines O'Swald gekauft, weil mir diese Hamburgische Anglomanie so schön bescheuert vorkam. Ein Nachfolger von Ruete im Dienst von Hansing & Co namens Justus Strandes wird zu den Gründern von Deutsch-Ostafrika gehören.Die eigenwillige Sultanstochter (auf allen Photos eine schöne und elegante Frau), die aus Liebe zu dem jungen Hamburger Kaufmann zum Christentum übertritt, wird sie glücklich werden in dem kalten Hamburg? Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber es kommt alles anders. Zuerst überlebt ihr Kind die strapaziöse Reise nicht. Und dann stirbt ihr Mann, dem sie noch drei Kinder geboren hat, im Jahre 1870. Er war von einer Pferdebahn in Uhlenhorst (die Ruetes wohnten damals in Uhlenhorst, Schöne Aussicht 29 ist immer noch eine feine Adresse in Hamburg) abgesprungen, gestolpert und unter die Bahn geraten. Starb eine Woche später, eins der ersten Opfer des öffentlichen Personennahverkehrs in Hamburg. Wenig später stirbt auch ihr Bruder, zu dem sie trotz der Flucht noch die besten Beziehungen hatte. Und da sitzt nun unsere arabische Prinzessin mit drei kleinen Kindern in Hamburg. In dieser Gesellschaft von bornierten Pfeffersäcken, die sie nicht akzeptiert. Vor allem nicht, wenn sie beginnt, geborene Prinzessin von Sansibar und Oman hinter ihren Namen zu setzen. Das mögen die stieseligen Hamburger ja gar nicht. Wenn man die Jugenderinnerungen von Ascan Klée Gobert (der Vater des Schauspielers Boy Gobert) liest, kann man einen schönen Eindruck von dieser Gesellschaft bekommen. Emily hat auch Verständigungsschwierigkeiten, das Hamburgische Missingsch versteht sie nicht, mit ihrem Mann konnte sie sich auf Kisuaheli unterhalten. Sie wird aber die deutsche Sprache eines Tages noch perfekt beherrschen.
Eigentlich möchte sie zurück nach Sansibar. Sie schreibt Briefe über Briefe (die eines Tages als Briefe nach der Heimat erscheinen werden) an die Verwandten, legt auch Photos der Kinder bei. Sie möchte auch an ihr Erbe kommen, das sie nach islamischem Recht eigentlich mit dem Übertritt zum Christentum verloren hat. Aber aus Verpflichtung zu ihrem Mann möchte sie auch, dass ihre Kinder eine gute deutsche Erziehung bekommen. Sie wird Hamburg 1872 verlassen, nach Dresden gehen, Rudolstadt, Berlin, Köln und wieder Berlin. Der deutsche Adel füttert die arabische Prinzessin durch. 1875 beginnt sie zu schreiben, 1886 erscheinen Die Memoiren einer arabischen Prinzessin, die ein beachtlicher Publikumserfolg werden. Da erfahren ihre Kinder auch zum ersten Mal, dass ihre Mutter eine Prinzessin ist.
Zu dem Zeitpunkt ist sie schon eine Schachfigur in Bismarcks Afrikapolitik geworden. Als Bismarck den Afrikaforscher Gerhard Rohlfs (Bild) zum Generalkonsul von Sansibar ernennt (nachdem er zuvor mit ihm in Friedrichsruh Heringshäppchen gegessen hat), schlägt er ihm vor, dass er Frau Ruete auf einem deutschen Kriegsschiff nach Sansibar mitnimmt. Damit sie ihre Ansprüche in Sansibar geltend macht. Doch so wenig Fertigkeiten Rohlfs in der Kunst der Diplomatie hat, das scheint ihm doch ein wenig zuviel des Guten. Er wird Frau Ruete nicht auf dem Kriegsschiff mitnehmen und wird einen großen Teil der Reise auf einem englischen Postdampfer machen (auf Madeira hat er den deutschen Kreuzer verlassen).
Dadurch brüskiert er natürlich Berlin und die kaiserliche Marine. Er nimmt sich der Sache von Emily Ruete an, tritt dabei aber in alle Fettnäpfchen, die so herumstehen. Den deutschen Kreuzer Gneisenau vor der Küste Sansibars Artillerieübungen veranstalten zu lassen, ist vielleicht nicht der richtige Weg für diplomatische Verhandlungen. Obgleich das eigentlich im Sinne Bismarcks sein müsste, der in einer Notiz geschrieben hatte: Frau Ruete ist für uns lediglich ein Anlaß zu Forderungen dem Sultan gegenüber. Für ihr Schicksal und ihre beaux yeux können wir die Reichsinteressen nicht einsetzen. Nötigt uns der Sultan durch sein sonstiges Verhalten zu militärischer Gewalt, so ist die deutsche Bürgerin Ruete mit ihren Rechten ein nützliches Argument, um Gewalt zu rechtfertigen. In Berlin bereitet man schon eine militärische Invasion Sansibars vor und schickt einen Admiral mit Namen Knorr mit Kriegsschiffen vorbei. Als die Bürgerin Ruete mit einem Lloyd Dampfer in Sansibar ankommt, liegen da schon Ihrer Majestät Schiffe Stosch (Bild), Gneisenau, Elisabeth und Prinz Adalbert im Hafen.
Ich lasse jetzt mal alle diplomatischen Winkelzüge beiseite, letztlich wird aus dem Sansibarabenteuer nichts. Bismarck kneift vor den Engländern. Emily Ruetes Sansibarbesuch verläuft ergebnislos, ihr Bruder weigert sich, sie zu empfangen. Und Gerhard Rohlfs ist schon nach einem halben Jahr abberufen worden, da ist er ganz froh drüber, das ist nicht seine Welt. Die deutschen Faktoreien wie Hansing hatten sich beklagt, dass er ihre kolonialistischen Interessen nicht genügend vertrat. Stattdessen wollte der Idealist Rohlfs dem Sultan den Sklavenhandel verbieten. Da wird er sofort von Bismarck abgewatscht, Philantropismus liege außerhalb Ihrer Aufgaben und desgleichen die Beteiligung an der Anti-Sklaverei Politik der Engländer. Gerhard Rohlfs geht auch nicht auf die nötige feindliche Distanz zu dem englischen Generalkonsul, da er Sir John Kirk (der Livingstone begleitet hatte) von früher kennt und als Forscherkollegen schätzt. Überall auf der Welt stehen sich Deutsche und Engländer feindlich gegenüber, hier in Sansibar dinieren der deutsche und englische Generalkonsul wie Freunde miteinander.
Genau wie Kirk (Bild) steht Rohlfs der Plänen von Dr. Peters in Ostafrika negativ entgegen und ist auch naiv genug, das nach Berlin zu schreiben. So kann er sich nicht wundern, wenn er von seinen Berliner Feinden im schönsten Amtsdeutsch beschrieben wird als: Nicht von Haus aus Beamter und von daher mit jenem allen amtlichen Organisationsstrukturen gemäßen Schematismus nicht vertraut, der auch seiner Aufgabe zugrunde lag, nicht dazu zu bewegen, sich den Gepflogenheiten seines - und ebenso des Auswärtigen - Amtes anzupassen, etwa die regelmäßige Berichterstattung strikt einzuhalten, kein geschulter Diplomat und damit innerhalb des exklusiven Diplomatischen Dienstes ein Fremdkörper. Klingt irgendwie sehr deutsch, dieses Todesurteil für idealistische Quereinsteiger, den Text könnte man bestimmt heute noch verwenden. Auch den Mediziner und weltberühmten Botaniker Sir John Kirk werden die Engländer im gleichen Jahr abberufen. Die Berliner Kongokonferenz hatte den Wettlauf um Afrika nur beschleunigt, jetzt werden in der Politik andere gesucht als Botaniker oder Afrikaforscher. Zwar steht das Verbot des Sklavenhandels in dem schönen Papier, auf das man sich einigt, aber niemand wird sich dafür interessieren, was König Leopold im Kongo macht.
Und obgleich sich Frau Ruete auch über ihn beklagt hat (sie beherrscht für die Durchsetzung ihrer Interessen ja alle Formen der Intrige, die Rohlfs fremd sind), wird Gerhard Rohlfs sich weiter für die Familie Ruete einsetzen. Besonders für ihren Sohn Rudolph (der noch ein deutscher Diplomat in Beirut wird), der für ihn eine Art Ersatzsohn ist. Er wird 1890, als Caprivis Sansibar Vertrag zwischen England und Deutschland perfekt ist, in der Kölnischen Zeitung einen langen Artikel schreiben, in dem er für ihre Ansprüche wirbt. Man sollte es kaum für möglich halten, daß einer deutschen Frau ein solches Unrecht geschehen konnte, schreibt er.
Und endet seinen Artikel mit den Worten: Aber noch ist es nicht zu spät, Deutschland hat die Verpflichtung, bei der Regelung der sansibarischen Geschäfte für die deutsche Frau Ruete einzutreten. Aus der Liebesgeschichte zweier junger Leute (Salme ist zweiundzwanzig, Johann Heinrich Ruete siebenundzwanzig Jahre alt, als sie sich treffen) ist Weltpolitik geworden. Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet, Till Earth and Sky stand presently at God's great Judgment Seat, hatte Kipling gedichtet. Emily Ruete, die 1924 in Jena starb, liegt heute neben ihrem Mann auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg begraben.
Emily Ruetes Autobiographie ist vor Jahren von der deutschen Ethnologieprofessorin Annegret Nippa herausgegeben worden, leider ist diese Ausgabe schon wieder vom Markt verschwunden. Die englische Ausgabe Memoirs of an Arabian Princess from Zanzibar ist dagegen leicht erhältlich (eine Ausgabe von 1907 kann man hier lesen). Die ultimative, kommentierte Ausgabe ihrer Schriften (in englischer Sprache) ist An Arabian Princess Between Two Worlds: Memoirs, Letters Home, Sequels to the Memoirs, Syrian Customs and Usages herausgegeben von dem holländischen Orientalisten Emeri Johannes van Donzel. Ist allerdings mit 276,99 € etwas teuer. Man kann jedoch den größten Teil der hervorragenden Einleitung (die auch die beste Skizze ihres Lebens enthält) bei Google Books lesen.
Die Briefe von Gerhard Rohlfs an die Familie Ruete liegen im Gerhard Rohlfs Archiv des Vegesacker Heimatmuseums im Schönebecker Schloss. Allerdings hat sich da seit den Tagen, da der Studienrat Dr Alwin Belger in den dreißiger Jahren begonnen hatte, den gesamten Rohlfs Nachlass zu katalogisieren, editionsmäßig nicht so viel getan. Alwin Belger war der Lieblingslehrer meiner Mutter am Lyceum gewesen, er hatte im Ersten Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger ein Bein verloren, und er ist in den letzten Kriegstagen zufällig durch eine englische Granate getötet worden. Nur wenige Meter entfernt von unserem Heimatmuseum, in dem er die letzten Jahrzehnte mit der Aufarbeitung des Gerhard Rohlfs Nachlasses verbracht hat. Da hat Dr Belger gearbeitet, pflegte mein Opa zu sagen, wenn wir sonntags das Heimatmuseum betraten, und dieser kleine Raum mit all den Gerhard Rohlfs Reliquien ist in meiner Erinnerung immer mit Dr Belger verbunden gewesen, dessen Arbeiten über den berühmten Sohn unserer Stadt nie zu einem Abschluss gekommen sind. Ich finde es schön, dass die Erinnerung an Emily Ruete durch einen Gelehrten wie Emeri Johannes van Donzel wachgehalten wird. Warum schreibt nicht endlich einmal jemand ein wirklich gutes Buch über Gerhard Rohlfs? Seit ich an einer Schule, die seinen Namen trägt, Abitur gemacht habe, verfolgt mich der Kerl. Ich habe alles gelesen, was über ihn erschienen ist, aber bis auf einen schmalen Band eines DDR Autors namens Dr Wolfgang Genschorek aus dem Jahre 1982 kann man das alles vergessen.
Lesen Sie auch: Gerhard Rohlfs, orientalisch
Samstag, 30. Oktober 2021
als Weib wirklich ungeheures Talent
Der junge Amerikaner Benjamin West hat gerade eine schwere Erkrankung überstanden, ein rheumatisches Fieber, das seine Beine lähmte. Aber der berühmteste italienische Chirurg Dr Angelo Nannoni konnte ihm helfen. An Nannoni war West durch die Empfehlung von dem Diplomaten und Kunstsammler Sir Horace Mann geraten. Noch hat die amerikanische Revolution nicht stattgefunden, noch ist West ein Engländer, und die Engländer in Italien helfen einander. Italien ist voller Engländer, Kunstsammlern und Gentlemen auf ihrer Grand Tour. Wenn Benjamin West Italien im nächsten Jahr verlässt, wird er nach London gehen und für den Rest seines Lebens in England bleiben und noch Präsident der Royal Academy werden. Zuvor hat er natürlich noch Angelika Kauffmann portraitiert.
Er wird später sagen, dass er ihr den ersten Unterricht in the principles of composition, the importance of outline, and likewise the proper combinations and mixtures of colours gegeben habe. Aber das kann nicht so ganz stimmen, Angelika Kauffmann stand zwar erst am Anfang ihrer Karriere und war mit ihrem Vater nach Italien gekommen, um sich zu vervollkommnen, aber malen konnte sie schon. Obgleich sie sich damals eben noch nicht sicher war, ob sie wirklich eine Malerin werden sollte. Sie hatte diese schöne Stimme und liebäugelte noch mit einer Karriere als Opernsängerin.
Und dann ist da noch die Geschichte mit der angeblichen Verlobung mit Nathaniel Dance, die sie gelöst haben soll, als sie Joshua Reynolds kennenlernte (den sie hier auch in einem Van Dyke suit malt). Das sagt Joseph Farington, allerdings beginnt er sein berühmtes Diary erst im Jahre 1793, alles was die Klatschbase der Kunst da sagt, ist aus zweiter, meist dritter Hand. In einem Brief des schottischen Abbé Peter Grant, der mit vielen der englischen Romreisenden bekannt ist, heißt es 1765: Mr Dance if you remember him made strong love to her the whole of last winter, and was really so far gone in his tender passion that he was truly to be pitied, but all his address was not able to make the smallest impression upon her heart her whole raptures not having any other object than that of excelling in her profession. Das klingt nicht gerade nach bevorstehender Verlobung in London.
Vergessen wir bei all dem nicht: dies ist das Zeitalter der emphatischen Liebesschwüre, The Man of Feeling ist nicht nur ein Romantitel, es ist ein Programm für eine ganze Epoche, das age of sensibility. Natürlich kann man Selbstmord aus Liebe begehen, Goethes Werther wird dafür berühmt, die meisten behelfen sich aber mit sentimentalen Klagen. Und nachträglich bösem Klatsch. Gentlemen sind das nicht, das sind Künstler. Was Arnold Böcklin über seine Malerkollegen sagte, gilt sicher auch für die vielen liebeskranken Herren im London des 18. Jahrhunderts: Sie sind Streber, Affairisten, Jongleure: der eine will reich, der andere gesellschaftlich angesehen, der dritte berühmt oder berüchtigt, der vierte Akademiedirektor werden. Keiner denkt daran, ruhig ohne rechts und links zu blicken, das, was in ihm ist, auszubilden. Der Höhepunkt der Verleumdungsaktion ist vielleicht dieses Bild von Nathaniel Hone, das Joshua Reynolds als eine Art Jahrmarktsmagier zeigt. Es ist der Gegenstand eines großen Kunstskandals. Angelika Kauffmann soll eine der tanzenden Nackten auf dem Bild oben links in der Ecke sein. Sie beklagt sich bei der Royal Academy, Hone muss die nackten Damen übermalen.
Die Londoner Jahre, die unglückliche Heirat mit dem schwedischen Heiratsschwindler, die ständigen Verleumdungen (wie zum Beispiel die Karikatur The Paintress of Macaronis), haben ihre Spuren hinterlassen. Die Malerin wird sich nicht mehr wirklich weiterentwickeln. Sie wird nicht einsam und verlassen sein wie diese von Theseus verlassene Ariadne. Sie wird mit Goethe befreundet sein, der ihr schreibt Es ist wahr, ich bin mit meinem Geiste so nahe bei Ihnen wie mein eigener Schatten, aber in ihrer Kunst lebt sie von ihrem alten Ruhm. Ihre Begräbnis wird von Antonio Canova zu einem prunkvollen Staatsbegräbnis gestaltet, und man hat sie bis heute nicht vergessen.
Samstag, 4. September 2021
Ingeburg Thomsen
In den sechziger Jahren gibt es in beinahe allen norddeutschen Großstädten eine Musikszene, Hamburg hat die Riverkasematten und den Star Club. Und eines Tages hat der NDR ➱Klaus Wellershaus, den Erfinder der Rockmusik im Radio, wie Heinz Rudolf Kunze ihn in einer ➱Würdigung genannt hat. Sein Nachfolger Peter Urban wird nie an ihn heranreichen, was vielleicht auch daran liegt, dass es später nie wieder so gute Musik gab. Bremen hat die Lila Eule und Radio Bremen mit dem Beat Club und dem Musikladen, darüber habe ich ➱hier schon geschrieben. Und selbst in Schläfrig-Holstein gibt es in Kiel eine ➱Musikszene, von der Folk Szene wie den ➱Beda Folks ganz zu schweigen.
Ich schlage für Gershwins Summertime mal eben eine Seite meiner Bremensien auf, eine Seite aus einem Kapitel, das Moments Musicaux heißt. In dem es um die Klavierstunde, Jazz und Rock'n Roll geht. Natürlich auch um klassische Musik, aber klassische Musik ist damals für Jugendliche nicht so interessant, wenn man im amerikanisch besetzten Bremen jeden Tag AFN und BFBS im Radio hören kann.
Musikunterricht in der Volksschule ist schrecklich. Ständig läuft man Gefahr, nach vorne gerufen zu werden und vorsingen zu müssen. Da kommt man sich vor wie der kleine Charbovari im ersten Kapitel von Madame Bovary. Ich singe leidenschaftlich gern, bin auch immer der einzige, der alle Texte, alle Strophen kann. Aber ich kann nicht singen. Wird auch nach dem Stimmbruch nicht besser. Im Klassenchor stellt man mich in die letzte Reihe. Annegret, der Schwarm aller Zwölfjährigen, kann singen, der Lehrer holt sie immer nach vorne, damit sie uns ein Beispiel gibt. Sie singt You are my sunshine, immer wieder, das ist ihr Paradestück. Eigentlich ist es das Lied, das wir in unseren Köpfen für sie singen: You’ll never know dear, how much I love you. Please, don’t take my sunshine away. Annegret hat einen Herzfehler, und ihre Lippen laufen bläulich an. Ihre Eltern sparen für eine Herzoperation, irgendwo in Deutschland soll es einen Spezialisten geben. Man wird ihn Jahre später finden, alles wird gut. Sie lebt heute in Kalifornien. In meiner Vorstellung bleibt sie die blonde Zwölfjährige mit dem Pagenkopf, die herzzereißend You are my sunshine singt.
Die Mädchen, die wirklich gut singen können, singen in Chören, manche von ihnen noch heute. Aus reiner Liebe zu manchen Frauen geht man zu ihren Konzerten, denn nichts anderes könnte mich dazu bringen, mir im Bremer Dom zwei Stunden lang Bachkantaten anzuhören. Meine ➱Freundin Gu singt nicht, die spielt Violine. Also werde ich zum Groupie des Schulorchesters, in dem sie spielt, ich sitze bei Proben in der letzten Reihe und bewache die Garderobe. Einmal sogar in den heiligen Hallen des Bremer Rathauses, cool hingelümmelt mit meiner Lederjacke ganz hinten im Saal, die Füße auf der Sitzreihe vor mir. Violinkonzerte sind fetziger als hingebungsvoll gesungene Bachkantaten. Ich kann immer noch jedes Violinkonzert mitpfeifen.
Manche der jungen Frauen, die gut singen können, wandern anfangs der sechziger Jahre in die ersten in Norddeutschland entstehenden Jazzbands ab; singen da heimlich, ohne dass ihre Eltern das wissen, Vorläuferinnen von Ingeburg Thomsen, die ich einmal erlebt habe. Die blonde Ute hätte so was tun können, sie ist eine coole, gut aussehende Blondine. Nicht mein Typ, aber ich musste sie zu dem Oberstufenball begleiten. Mein Vater hat mir das aufgetragen, Ute ist die Tochter eines seiner Kollegen. Als der Ball in der Strandlust zu Ende geht, gehen wir noch in die Bar im Keller, wo man aus den Bullaugenfenstern auf die Weser bei Nacht blicken kann. Aber da hockt nur die Säuferclique des Werftbesitzers. Manche von denen sollen eine Flasche Asbach Uralt pro Tag trinken. Dies ist eine Kleinstadt, man kennt sich, es wird viel geredet. Man weiß noch, wer die Nazis waren.
Wir beschließen, das Weite zu suchen, als die Säufer Ausziehen, ausziehen grölen. Ute geht zum Klavier, flüstert dem Pianisten etwas zu. Und dann zieht sie aufreizend langsam ihren weißen Regenmantel aus. Ich weiß nicht, was sie vorhat. In der Bar mit den Bullaugenfenstern ist es plötzlich ganz still. Ute wirft ihren Regenmantel auf den Flügel, stützt sich mit einer Hand auf und singt: Summertime and the living is easy, fish are jumping, and the cotton is high. Das ist schon etwas anderes als Die Liebe ist ein seltsames Spiel von Connie Francis, das jetzt überall aus dem Radio plärrt. Der Werftbesitzer und seine Säuferclique sitzen sprachlos mit offenen Mündern da. Dann nimmt Ute mit einer lässigen Bewegung ihren Mantel und rauscht an der crème de la crème der Vegesacker Gesellschaft vorbei. Es gibt keinen Beifall, aber auch keine cat calls. Ich folge ihr und spendiere der Herrenrunde meinen besten John Wayne-Blick. Einer guckt etwas betreten. Ist es ihm plötzlich klar geworden, dass dies seine Tochter Annegret hätte sein können, die so schön You are my sunshine sang? Dem filmreifen Auftritt folgt ein denouément, der letzte Bus ist weg. Ich muss Ute fünf Kilometer durch die Nacht begleiten. Was mir (einschließlich der fünf Kilometer zurück) nicht so schwer fällt, aber ihr: neue high heels, schwarzlackiert, eine Nummer zu groß. Ich gebe ihr meine beiden weißen Taschentücher (junge Dandies haben damals immer zwei saubere weiße Taschentücher dabei) für die Hacken, so muss es gehen. Ute ist keine Jazzsängerin geworden, obgleich sie das Zeug dazu gehabt hätte, wir sind zu sehr Teil dieser großbürgerlich-kleinbürgerlichen Welt von Bremen-Nord, als dass wir aus ihr ausbrechen würden.
Mir bleibt eine lebenslange Bewunderung für Frauen, die mit Bass und Klavier im Hintergrund ein Mikrophon in die Hand nehmen. Oder gegen ein großes Orchester gegenan singen. Wie Ottilie Patterson, die ich mit Chris Barber auf einer Platte habe. Nicht jeder von uns hat die Chance wie Frank O’Hara, Lady Day im Five Spot zu hören while she whispered a song along the keyboard/to Mel Waldron and everyone and I stopped breathing. Inzwischen gibt es keine Platten mehr, nur noch CDs. Die kann man zu kleinen Türmen stapeln. Mein Stapel von Jazz Singers erreicht schon die Höhe einer Sängerin, und überall in den Clubs tauchen immer wieder Blondinen im kleinen Schwarzen auf, vielversprechende Talente. Irgendwie scheint das die einzige Spezies auf der Welt zu sein, über deren Fortbestand man sich keine Sorgen machen muss.
Nicht aus allen wird etwas. Die Karriere von Ingeburg Thomsen war auch nicht so großartig, wie ich mir damals nach dem Konzert in Hamburg gedacht hatte. Sie war im Schulchor gewesen und war dort fast für alle Tonlagen gut. In Hamburg war sie im Umfeld von Abbi Hübner bekannt geworden, mit dem sie auch Cake walking Babies from Home und Jelly Bean Blues aufgenommen hat (auf Hamburger Jazz Szene Vol. 2). Aber der traditional jazz, auch ➱Zickenjazz genannt, schien langsam außer Mode zu kommen. Und so wandelte sich Ingeburg Thomsen zu einer der ersten Rock Ladies, die auch Namen wie Rock Röhren und Rock Miezen hatten. Inga Rumpf ist wahrscheinlich die bekannteste aus dieser Zeit, aber es gab natürlich noch andere, wie dieser ➱Artikel im Spiegel von Siegfried Schmidt-Joos (einem der besten Kenner der Szene) zeigt. Da war noch Caro (Josée) Tolenaar (die sieht hier aus wie das Titelbild vom ➱Twen), Ulla Meinecke oder Jutta Weinhold, die haben heute alle Wikipedia Artikel. Ingeburg Thomsen hat keinen.
Aber sie hat offensichtlich noch Fans. An der Pinnwand der Seite Swinging Hamburg fand ich folgende, auf den Oktober des Jahres datierte, Notiz: Wo ist Ingeburg Thomsen? Hallo, ich suche seit Jahren nach Informationen über die Sängerin Ingeburg Thomsen. Sie ist maßgeblich daran schuld, dass ich mich als 18-Jähriger Anfang der 70-er-Jahre dem Jazz zugewandt habe. Leider gibt's im Internet so gut wie keinen aktuellen Hinweis auf diese großartige Sängerin. Selbst zahlreiche Jazzer, die mit ihr früher zu tun hatten (Abbi Hübner, Banjomeyer ...) konnten mir nicht weiterhelfen. Weiß jemand, ob sie noch auftritt? Wenn ja, über welche Agentur kann man mit ihr Kontakt aufnehmen? Vielen Dank für jeden Hinweis! Erwin X., Jazzpianist.
Ich bin ja froh, dass ich die CD Love me or leave damals gefunden hatte. Die Sängerin hatte viele bekannte Namen in der Combo, wie Volker Reckeweg, Peter Weber und Peter (Banjo) Meyer. Die CD hat mich im Grabbelkasten eines inzwischen untergegangen Ladens einen Euro gekostet. Wenig später traf ich eine Bekannte, die, als sie die CD sah, beinahe Tränen in die Augen kriegte. Sie gestand mir, dass sie früher einmal vor dem bürgerlichen Leben ein Groupie von Jazzbands gewesen sei und dass sie mit Ingeburg Thomsen befreundet gewesen sei. Erzählte mir auch Dinge über das Leben on the road, die ich leider nicht weitergeben kann. Ich bin sofort zu dem Laden zurück und habe für sie auch noch eine CD gekauft.
Ingeburg Thomsen hat kleine Filmauftritte, sie ist in dem Udo Lindenberg Film Panische Zeiten (1980) und in Hans C. Blumenbergs Tausend Augen (1984) zu sehen. Sie kommt auch in einem Film vor, in dem sie nicht zu sehen ist. In Peter F. Bringmanns Die Heartbreakers kann man sie nur hören, nicht sehen. Heute dreht Bringmann ja Filme für Serien wie Tatort, Ein starkes Team und Wilsberg, die ja immerhin eine gewisse Qualität haben. Aber als er noch Jungfilmer war, da hat er richtig gute Filme gedreht. Wie Der Tag, an dem Elvis nach Bremerhaven kam, Theo gegen den Rest der Welt und Die Heartbreakers. Die Kleine da vorne kennen Sie, die spielt heute eine Polizistin in Großstadtrevier. In diesem Film ist die damals sechzehnjährige Maria Ketikidou die Sängerin Lisa, die so gerne in die Band will. Aber Maria Ketikidou singt im Film nur zum Playback, die Stimme kommt von Ingeburg Thomsen. Sie können sie ➱hier mit Bring it on home to me hören.
Rock'n Roll I gave you the best years of my life, sang Kevin Johnson 1973. Da hatte Ingeburg Thomsen schon in der deutschen Version des Musicals Hair gesungen. Und (an der Seite von Donna Summer, die unter dem Künstlernamen Gayn Pierre auftrat) in Ich bin ich (1970), der deutschen Version von The me nobody knows. 1975 kam ihr erstes Soloalbum Love me or leave.
Acht Jahre später wagte sie mit der LP Weiße Sklavin den Sprung in die Avantgarde. Der Musikexpress war in seiner Besprechung etwas unentschlossen, sprach von das Ergebnis wirkt eher kontrovers, suchend. Eins hat Ingeburg Thomsen ganz sicher: Mutterwitz und Herz - und natürlich Mut. Der letzte Satz der Rezension lautete: Ingeburg Thomsen kann singen, mehr noch, sie kann eingefahrene Bahnen verlassen, ohne ins Schleudern zu geraten. Ich konnte mit der Platte damals nichts anfangen, ihre Cover Version von Friedrich Hollaenders Eine kleine Sehnsucht fand ich nett, aber der Rest, zwischen Rap und Sprechgesang, ich weiß nicht. Da kann ich nur dem Musikexpress beipflichten, der über die Songs sagte: Andere wieder verlieren sich in der eigenwilligen Dramaturgie der Musik, bei der ich stellenweise etwas Melodie vermisse. Da geht die Spannung etwas verloren. Aber für 1975 war dies Avantgarde, und wahrscheinlich gibt es irgendeine Szene, wo das auch heute noch gut ankäme.
Ingeburg Thomsen taucht für kurze Zeit bei verschiedenen Bands auf. Mal ist sie mit Gottfried Böttger, Rolf Klingelhöfer und Peter 'Banjo' Meyer (auf dessen Doppel CD Forty Years on Stage sie auch zu hören ist) bei den Hamburg Allstars. Mal singt sie bei dieser ➱Band mit dem schrägen Namen (hätte ➱Rudolf Schock darüber lächeln können?) Rudolf Rock und die Schocker. Und bei Udo Lindenberg, den Wolf Biermann damals das Fettauge in der westdeutschen Wassersuppe nannte. Sie sang auch mal mit der Red Onion Jazz Company. Mit der sie die LP Dauerbrenner up to date aufgenommen hat. Irgendwann verliert sich ihre Spur, mehr weiß ich nicht über sie. In dem Lexikon, in dem beinahe alle Hamburger Jazzer zu finden sind, ist sie nicht drin. Aber sie ist natürlich in dem Riesenpaket, der 18 CD Box (mit beinahe 400 Titeln) Swinging Hamburg - von 1946 bis Heute auf zwei CDs mit dabei. Man bekommt beim Kauf der Box auch noch ein 300-seitiges Buch dazu. Das gibt die beste Übersicht über die Hamburger Szene (wenn auch der Index etwas übersichtlicher sein könnte). Und ist natürlich Nostalgie pur.
Und wir hören zum Schluss noch eben ➱hier in Lisa's Song (aus den Heartbreakers) hinein.