Es gibt kaum ein Photo von Elisabeth (Lilli) Martius im Internet. Die unbedeutendsten Leute müllen das Netz mit ihrem Konterfei zu, aber keine Bilder von Lilli Martius. Dabei ist sie, so vornehm und zurückhaltend sie war, eigentlich eine Berühmtheit gewesen. Ich zähle mal eben einige der Ehrungen auf, die sie erfahren hat: Ehrenbürgerin von Kiel, Kulturpreis der Stadt Kiel, Honorarprofessorin der Universität und der Dannebrogorden von
Königin Margarethe. Der Museumsdirektor Ernst Schlee hat sie einen
bis ins hohe Alter beweglichen, aufnahmebereiten und dem Neuen aufgeschlossenen Menschen von seltenen Gaben und großer Weite des Denkens, dazu von erstaunlicher Tatkraft und wahrer Güte genannt. Eigentlich wollte ich die Kunsthistorikerin noch in den Post mit dem schönen Titel
måneskinnsmaler hineingeschrieben haben, warf es aber wieder hinaus. Es wurde zu lang. Es wird immer zu lang.
Irgendwie war das schade, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Es war Sonnabendnachmittag, und ich ging erst einmal zu
Eschenburg. Mache ich meistens am Sonnabendnachmittag. Fand auch gleich, was ich suchte, nämlich den Band 47 der Zeitschrift
Nordelbingen. Darin ist nämlich der Aufsatz
Das Gemälde "Einfahrt ins Nærødal" von dem norwegischen Maler Knud Andreassen Baade von Jens Christian Jensen. Ich besitze alle möglichen Nummern von
Nordelbingen (es gibt die Kulturzeitschrift seit 1923), aber Band 47 hatte ich nicht. Das Wort
Nordelbingen fasziniert mich immer wieder, ist irgendwie eine Variation von
Nordalbingien und Nordelbien. Klingt auf jeden Fall eindrucksvoller als
Schleswig-Hostein Der echte Norden, ein Spruch, für den die Regierung von Herrn Albig viel Geld bezahlt hat.
Band 47 hat mich bei Eschi fünf Euro gekostet. Was ich nicht wusste: das war gleichzeitig eine Festschrift für Wolfgang J. Müller zum 65. Geburtstag gewesen. Bei mir im Regal steht nur
Kunstsplitter: Beiträge zur nordeuropäischen Kunstgeschichte. Festschrift für Wolfgang J. Müller zum 70. Geburtstag überreicht von Kollegen und Schülern. Jetzt habe ich beide Festschriften.
Jens Christian Jensen hat zu dem Bild von Baade nicht sehr viel zu sagen. Es ist sehr sympathisch, dass er gesteht, dass er sehr wenig über Baade wusste und mit dem Bild
Einfahrt ins Naerøtal nicht so viel anfangen konnte. Aber bei ihm kann man auch lesen, dass Caspar David Friedrichs
Zeichnung von Baade an der Staffelei auch das Bild
Einfahrt ins Naerøtal zeigt.
Lilli Martius ist auf verschlungenen Pfaden zur Kunstgeschichte gekommen. Als sie 1929 mit einer Dissertation über die Die Franziskuslegende in der Oberkirche von San Francesco promoviert wurde, war sie schon vierundvierzig Jahre alt. Sie war in einem großbürgerlichen und vermögenden Elternhaus aufgewachsen. Ihre Mutter kam aus der Industriellenfamilie Borsig, über Stracks
Borsig Villa in Moabit wird Lilli Martius eines Tages einen Aufsatz schreiben. Ihr Vater ist ab 1898 Professor für Philosophie und
Psychologie in Kiel, er wird auch einmal der Rektor der Universität werden.
Die Familie Martius bewohnte bis 1937 eine repräsentative Villa in der Hohenbergstraße. Lilli Martius zog danach in die Esmarchstraße. Die Familie Martius hatte zuvor in Bonn auch standesgemäß gewohnt, in einer
Villa, die zwischen dem Palais Schaumburg und der Villa Hammerschmidt lag. Der Garten des Hauses in Kiel ist kein Garten, es ist ein Park. Heißt heute noch Martiuspark. Ist umkämpftes
Bauland. Schon heute denkt niemand mehr an Lilli Martius, wenn der Name
Martius fällt. Der bedeutet heute das Bauprojekt
Martius Terrassen. Es ist widerlich. Unter der Adresse Hohenbergstraße 4 ist beim Amtsgericht eine gewisse Friederike K. de Jong-von Knebel eingetragen, die ein
Objektmanagement und unter dem Namen
Koko von Knebel eine Lifestyle Agentur für Vierbeiner betreibt.
Sic transit gloria mundi.
Lilli Martius hat in Bonn eine Privatschule besucht, später die Höhere Töchterschule in Kiel. Vor einem Studium fürchtet sie sich ein wenig:
vor der Universität hatte ich soviel Respekt, daß ich auf das Hören von Vorlesungen, was bei Kunstgeschichte damals sehr üblich war, von vornherein verzichtete, zumal der Papa solchen Halbheiten sehr wenig zugetan war. Dass eine Tochter aus großbürgerlichem Haus (
Der Haushalt ist ‘hochkultiviert’ mit Hausmusik, Kunst und Kultur, Gesellschaften und – ebenfalls noch dem gehobenen Bürgertum vorbehalten – Reisen) studiert, war vor dem Ersten Weltkrieg nicht die Regel.
Es war also bei mir und einem erheblichen Teil meiner Mitschüler die typische Lebensform der höheren Tochter, denn der Anspruch einer Berufsausbildung begann sich erst leise anzuzeigen, schreibt sie 1970 in ihren Erinnerungen
Erlebtes: Verwandten und Freunden erzählt. Lilli Martius hatte für sich beschlossen, Malerin zu werden und nahm Zeichenunterricht an der Privatakademie für Malerei der Kieler Maler Georg Burmester (im oberen Absatz) und Fritz Stoltenberg (den
Peder Severin Krøyer einmal
gemalt hat). Das Bild Stoltenbergs zeigt die Kieler Howaldtswerke im Jahre 1907. Lilli Martius nimmt auch an einem Einführungskurs in die Lithographie bei dem Hamburger Maler
Ernst Eitner (den man einmal
den Monet des Nordens nannte) teil, geht dann aber 1907 nach Berlin, obgleich die Eltern Bedenken gegen diesen
gefahrvoller Ort der Sittlichkeit hatten.
Im Ersten Weltkrieg leistet Lilli Martius freiwilligen Dienst als OP Schwester beim Deutschen Roten Kreuz, zwei ihrer drei Brüder werden im Krieg fallen. Professor Martius lässt für seine Söhne auf dem Eichhof Friedhof von keinem Geringeren als
Adolf von Hildebrandt ein repräsentatives Mausoleum errichten. Ein Prunkbau des untergehenden Großbürgertums. Die ganze Familie Martius wird hier eines Tages liegen. In der Hauptstadt Berlin hat Lilli Martius ein neues politisches Bewusstsein gefunden, sie trat für das Wahlrecht der Frauen ein, das 1918 eingeführt worden war:
Es war mir eine wichtige Sache, daß die Frauen nun wahlberechtigt wurden. Ich kam trotz einiger Zweifel an der Zweckmäßigkeit dieser Einrichtung doch zu dem Entschluß, daß es richtig sei, als Frau zu wählen.
Brigitte Schubert-Riese hat in
Lotte Hegewisch, Lilli Martius, Gertrud Völker: Drei Frauenbilder aus der Kieler Stadtgeschichte versucht, Lilli Martius zu einer Vorkämpferin der Emanzipation zu stilisieren. Dem stehen aber Sätze wie
Wie dem auch sei: die Probleme der Frauenfrage kamen für mich bei der festen Bindung an das Haus gar nicht in Frage entgegen, und man wird aus ihrer Autobiographie nichts anderes herauslesen können. Das Bild, das zum Cover des Katalogs
Gute Gesellschaft wurde, habe ich übrigens schon in dem Post
ythlaf gezeigt.
Ohne Lotte Hegewisch, Professorentochter wie Lilli Martius, gäbe es die Kunsthalle nicht an dem Ort, an dem sie seit 1909 steht. Der Professor Peter Wilhelm Forchhammer, der schon 1842 im Kieler Schloss eine Sammlung von Gipsabrücken der Elgin Marbles ausgestellt hatte (der Keim der späteren
Antikensammlung), wollte im Kieler Schlossgarten eine Kunsthalle bauen. Lotte Hegewisch hörte schon die Axthiebe und sah den schönen Schlossgarten gefährdet. Nach längerem Nachdenken schrieb sie ihre Villa mitsamt dem sechstausend Quadratmeter großen Grundstück Klein Elmelo in ihr Testament. Das bleibt nicht unbeobachtet, sodass sie in ihre
Erinnerungen früherer Stunden für Letzte Stunden schreiben kann:
Im Dezember bekam ich, gesandt durch die 'Kaiserliche Schatulle', eine Brosche vom Kaiser: Sein Namenszug in Brillanten, als Anerkennung für mein Vermächtnis. Zum Thema der Griechen und der
Elgin Marbles wird es hier in den nächsten Tagen einen
Post geben.
Arthur Haseloff (hier unter dem Portal von S. Maria Nuova in Melfi photographiert) wurde 1920 als Nachfolger von
Georg Graf Vitzthum Ordinarius für Kunstgeschichte in Kiel und wurde gleichzeitig Direktor der Kunsthalle und Vorsitzender des Kunstvereins. Er war ein Mann mit weitreichenden internationalen Verbindungen, der 1932 auch eine Professur in New York wahrnahm. Nicht viele deutsche Kunsthistoriker waren vor 1933 in Amerika. Nach 1933 waren es mehr, aber das hat einen anderen Grund. Als es Mitte der zwanziger Jahre eine neu geschaffene Zulassung zum Studium ohne Zeugnis der Reife gibt, ermutigt Haseloff Lilli Martius zu einem Studium der Kunstgeschichte. Ihr Vater, der 1927 stirbt, wird es nicht mehr erleben, dass seine Tochter einen Doktortitel trägt.
Damals war
Lilli Martius schon Angestellte des Kunstvereins, sie hatte erkannt,
daß Personen wie ich nicht mehr von Kapital und Zinsen leben konnten. Seit 1923 verwaltete sie das Kupferstichkabinett. Diese Stelle hatte sie wahrscheinlich durch die Protektion ihres Vaters bekommen. Eine Existenz als Malerin hatte sie doch nicht gewagt, sie fürchtete sich davor, zum
Dasein einer kleinen Malerin auf dem Dorf verurteilt zu sein. Zu ihren Aufgaben gehörte wahrscheinlich etwas mehr als die Ordnung und Verwaltung der graphischen Sammlung, da Professor Haseloff lieber in Italien als in dem Institut in Kiel weilte. Wir sehen ihn hier mit seinem Photoapparat auf der Mauerkrone des
palatiums von Friedrich Barbarossa in Lucera.
Harald Eschenburg, Sohn eines Admirals, Mitbegründer der FDP in Schleswig-Holstein, Buchhändler und im Alter Romanautor, hat Haseloff als
Professor Fuchslauf in seine Romane hineingeschrieben. Die für Kiel so etwas sind, was die
Buddenbrooks für Lübeck waren. Haseloff sieht bei seinem ersten Auftritt in
Schlagseite: Roman aus der Weimarer Republik nicht sehr gut aus. Er hat gerade einen von einem Bilderfälscher gefälschten Corot für echt erklärt. So etwas passiert Direktoren einer Kunsthalle schon mal. Keiner der Rembrandts von Günther Busch in Bremen war echt (lesen Sie ➱
hier mehr), und Sedlmaier sah bei der Geschichte um die
Malskat Fälschungen auch nicht gut aus. Harald Eschenburg versichert uns natürlich, dass die handelnden Personen des Romans frei erfunden seien, allein die Leser in Kiel und Umgebung hatten jahrelang nichts anderes zu tun, als die wirklichen Namen der Romanfiguren zu entschlüsseln.
Lilli Martius hat sich in dem kleinen Institut sehr wohl gefühlt:
ich habe es immer als glücklich empfunden in einem kleinen Museum und nicht als winziges Glied in einem Riesenbetrieb zu sein. Ab dem Wintersemester 1932/33 hält sie Übungen über die
Techniken der Künste ab, und 1939 erhält sie eine Festanstellung als Assistentin. Hatte ihre Dissertation noch das italienische Trecento zum Thema (das Thema hatte ihr sicherlich Haseloff gegeben), so wird sie sich in Zukunft mehr für die Kunst im Lande interessieren.
Sie spricht in ihren Erinnerungen davon, dass ihre Forschungen
von nun an die intensivere Beschäftigung mit den Schleswig-Holsteinischen Künstlern zum Ziel hat, da [sie] die Nutzung der dänischen Nachbarschaft für leichter durchführbar hält. Über diesen Maler (➱
Hans Peter Feddersen) wird sie auch schreiben, und über viele andere aus dem Land. Kaum eine Region Deutschlands wird eine solche Aufarbeitung seiner Kunst erfahren. Ihre eigentlichen wissenschaftlichen Arbeiten werden erst in den fünfziger Jahren erscheinen. 1965 kommt ihr Hauptwerk
Die schleswig-holsteinische Malerei im 19. Jahrhundert auf den Markt.
Den politischen Entwicklungen der dreißiger Jahre stand sie eher naiv gegenüber (..
. so sind mir maßgebende Geschehnisse mehr als gut gewesen wäre, entgangen). Ihre Devise war
von Anfang an höchste Zurückhaltung und Handeln in der Stille. Über ihre Kollegin Aenne Liebreich, die aus der gleichen sozialen Schicht kommt wie sie, weiß sie in ihrer Autobiographie nur wenig zu sagen:
Ich erhielt, wie gesagt, in der gleichen Zeit [Jahreswende 1932/32] die Berechtigung, Kurse über Technik der Künste im Kunsthistorischen Institut zu halten. Meine Freude wurde aber zunächst dadurch beeinträchtigt, daß die von meiner Kollegin Dr. Änne Liebreich erwartete Genehmigung zur Habilitation sich nicht nur immer weiter verzögerte, sondern als unrealisierbar angesehen wurde. Aenne Liebreich emigriert nach Frankreich, bekommt eine Stelle als Assistentin bei dem berühmten
Henri Focillon und übersetzt ihre Habilitation ins Französische. Als ihre Verträge und Stipendien am
Institut d‘art et d‘archéologie auslaufen, nimmt sie sich im Sommer 1939 das Leben. Seit März 2015 gibt es vor dem Haus Niemannsweg 133 einen
Stolperstein.
Erstaunlicherweise waren viele von den Hochschullehrern, die einst die Nazis vergötterten, in den sechziger Jahren noch in Amt und Würden an der
Universität. Und wunderten sich 1968, dass sie von den Studenten attackiert wurden. Den Professor
Ferdinand Weinhandl und den blütenreinen Nazi Schmidt (alias Paul Carrell) habe ich schon in dem Post
Feuer erwähnt. Das Buch
Wissenschaft an der Grenze: Die Universität Kiel im Nationalsozialismus von Christoph Cornelißen und Carsten Mish sollte an dieser Stelle unbedingt genannt werden. Glücklicherweise sind unter den Kieler Kunsthistorikern keine überzeugten Nazis gewesen, Haseloff und Lilli Martius waren nie in der Partei.
Man kann es nirgendwo nachlesen, aber es ist mir mehrfach erzählt worden, dass
Lilli Martius in den Jahren, als die Nazis an die Ausradierung der sogenannten
entarteten Kunst gingen, still und heimlich Werke beiseite geschafft hat. Erst ins Magazin, wo sie niemand sieht, danach weit weg. Bilder bekamen andere Zuweisungen, waren dann nicht mehr auf den Listen. Auf einer Seite der Stadt Kiel wird es angedeutet:
Lilli Martius hat sich als erster Kustos der Kieler Kunsthalle und als Retterin bedeutender Kunstwerke vor der Zerstörungswut der Nationalsozialisten einen Namen in der Kieler Stadtgeschichte gemacht.
Arthur Haseloff (der 1935 verhindert hatte, dass eine Adolf Hitler Büste in der Universität aufgestellt wurde) entwickelte in den Verhandlungen mit
Adolf Ziegler, dem Lieblingsmaler Hitlers (der man auch
Reichsschamhaarmaler nannte), ein gewisses Geschick. Aber unter dem Strich verlor die Kunsthalle 156 (oder zweihundert, die Zahlen gehen da auseinander) Kunstwerke. Es ist nicht ohne Pikanterie, dass man für die weggenommenen Exponate Leihscheine nach München schickte. Damit betonte man juristisch, dass man die Werke lediglich als für die Ausstellung
Entartete Kunst entliehene Bilder betrachtete. Dieses Bild hier ist natürlich keine entartete Kunst, das ist ein echter Ziegler.
Ab 1941 hatte man begonnen, den Bestand der Kunsthalle auszulagern (dies Bild von Hans Rickers findet sich schon in dem lesenswerten Post
Franco Costa). Die kunsthistorische Bibliothek wanderte nach Altenkrempe, wo sie im Seitenschiff der Kirche aufgestellt wurde (und von den Dorfbewohnern gerne benutzt wurde). Im Untergeschoss der zu großen Teilen zerstörten Kunsthalle blieb ein Raum von der Zerstörung verschont, in dem das Kunsthistorische Institut auf sechzehn Quadratmetern untergebracht war. Nach 1944, während der immer heftiger werdenden Bombenangriffe auf den Marinehafen Kiel (hier werden immer noch jeden Monat Bomben gefunden), hat Lilli Martius zusammen mit der Sekretärin der Kunsthalle Friedel Stender die restlichen Sammlungen des Kunstvereins evakuiert. Eigentlich hätte Friedel Stender, die auch eine Bibliographie der Schriften von Lilli Martius vorgelegt hat, die Universitätsmedaille bekommen müssen, hat sie aber nicht. An so etwas denkt man damals nicht. Ich empfand es immer als Sensation, dass unser verdienter Hausmeister Kurt Fröse die Medaille eines Tages bekommen wird.
Die Gehilfen, die Sir Kenneth Clark bei der Evakuierung der National Gallery hatte, hat sie nicht zur Verfügung. Und
Klavierkonzerte gibt es in der Kunsthalle natürlich auch nicht. Aber Engländer gibt es jetzt genügend in der Stadt. Hier zeigt der englische Admiral H T Baillie-Grohman (den man im Krieg ebenso wie den
General Carton de Wiart aus dem Ruhestand zurückgeholt hatte) dem Kommandeur des 8th Army Corps Generalleutnant E H Barker den Kieler Hafen.
Was man hier im Vordergrund vor der Kunsthalle sieht, ist die Universität Kiel im Jahre 1945. Der Lehrbetrieb der Universität beginnt auf einem Passagierschiff, das zuletzt als Truppentransporter gedient hat. Genau genommen sind es vier Schiffe,
Barbara,
Sofia,
Orla und
Hamburg, die hunderte von Studenten beherbergen. Die Messen in den Bäuchen der Schiffe wurden notdürftig zu Hörsaalen umgebaut.
Die Kunsthistoriker beginnen in ihrem kleinen Raum in der zerstörten Kunsthalle, Vorlesungen (für die selbst Haseloff aus dem Ruhestand zurückkehrt) finden in der Zoologie oder der Medizin statt. Die einzige Mensa, die es weit und breit für die Studenten gibt, ist die
Seeburg. Die einst im Jahre 1910 der Rektor der Kieler Universität Goetz Martius in Anwesenheit von Prinz Waldemar von Preußen feierlich eingeweiht hat. Viele Jahre später hat mein Freund Georg hier seine Examensparty gefeiert, würde ich gerne drüber schreiben, aber das wird wieder zu lang.
1945 übernahm Lilli Martius vertretungsweise die kunsthistorische Professur, der Ordinarius
Richard Sedlmaier hielt sich zu einem längeren Kuraufenthalt in München auf. Auch so etwas gibt es im Krieg. Martius kündigte ein Seminar mit dem Titel
Klassizismus und Romantik an, das aber wegen Raummangels nicht abgehalten werden konnte. Sie hätte dazu auch wohl keine Zeit gehabt, da man sie mit der Rückführung der ausgelagerten Institutsbestände betraut hatte. Klingt gut, war aber in der Praxis schwierig.
Die Universitätsverwaltung reagierte auf Lilli Martius' Frage nach Transportmitteln mit:
Was wollen Sie, Bücher Bilder? Kartoffeln sind wichtiger. Gehen Sie zum Engländer. Die Engländer herrschen jetzt in der Stadt, die sie zu achtzig Prozent zerstört haben. Sogar einen British Kiel Yacht Club gibt es jetzt, das war vorher der
Kieler Yacht Club. Die Engländer können der reizenden älteren Lady mit den vornehmen Manieren keinen Wunsch abschlagen, sie bekommt einen Lastwagen für den Rücktransport der Kunstwerke und der Bibliothek.
Sie fand bei ihren Aktionen einen tatkräftigen Gehilfen in
Wolfgang J. Müller, dem Assistenten Sedlmaiers, der nach Kriegsdienst und Gefangenschaft gerade nach Kiel gekommen war. Er hat mir einmal von der damaligen Lage erzählt. Es war etwas dramatischer als aus den verhältnismäßig dürren Worten von Frank Büttner in der Geschichte des Instituts hervorgeht:
Er kam in einer Situation, von deren Schwierigkeiten wir uns heute kaum noch eine rechte Vorstellung machen können. Mit einer Energie, die offensichtlich gar nicht zu bändigen war, wirkte er zusammen mit Lilli Martius, der Kustodin der Kunsthalle, für den Wiederaufbau des Kunsthistorischen Institutes.
1947 wurde Lilli Martius zur Kustodin der Kunsthalle ernannt, was sie etwas ironisch mit der Bemerkung quittierte, das sei für sie
ein wichtiger Schritt auf dem Wege, zu einer Altersversorgung zu kommen. Die ersten Ausstellungen nach dem Kriege waren Emil Nolde und Ernst Barlach (beide 1947),
Edvard Munch (1948) und
Christian Rohlfs (1949) gewidmet. 1951 ging sie in den Ruhestand, der eher ein Unruhezustand war, denn jetzt begann sie zu schreiben.
Unter anderem über Bilder wie dieses von
Erik Pauelsen, das sich in
Skandinavische Landschaftsbilder: Deutsche Künstlerreisen von 1780 bis 1864 findet. In der Kunsthalle war sie immer zu sehen. 1958 hatte sie den ersten Katalog nach dem Kriege fertig. 1973 erschien Johann Schlicks
Katalog der Gemälde, der natürlich das Werk von Lilli Martius würdigt. Der neueste Katalog hat für Lilli Martius einen halben Satz übrig. Der Katalog trägt den Namen eines Mannes, der als Kunsthallendirektor das Museum als Spielwiese für 'Neues Ausstellen' missbrauchte. Kiel verdankt ihm epochale Ausstellungen wie
Heavy Metal,
Ballermann,
Accessoiremaximalismus oder
Malerei ohne Malerei.
1963 erschien zu ihrem achtzigsten Geburtstag als Band 34 von
Nordelbingen eine Festschrift, die durch Subskription finanziert worden war. In der
tabula gratulatoria fand ich auch den Namen der
Baronin von Stoltzenberg, allerdings etwas falsch geschrieben. Solche Druckfehler findet man in den Bänden von Nordelbingen immer wieder. In manchen Schriften glücklicherweise nicht.
Joachim Kruse hat mir einmal erzählt, welche Arbeit er (damals gerade promoviert) mit dem Korrekturlesen des Katalogs von Lilli Martius gehabt hat. Sie hat ihm natürlich dafür gedankt. Steht so im Katalog. Und über Friedrich Nerly, den Maler dieses Bildes, hat sie auch geschrieben.
Nach ihrem Tod landete ihre Bibliothek bei Eschenburg. Es kam im Laden beinahe zu Handgreiflichkeiten, weil sich jeder die besten Stücke sichern wollte. Harald Eschenburg pflegte in jenen Tagen seinen Laden abends mit dem Satz abzuschliessen:
Die Raubtierfütterungszeit ist jetzt zu Ende.
Es ist April, und Sie wissen schon, was jetzt kommt: ein Monat lang Gedichte. Ich suchte ein Gedicht, das mit einer Kunsthalle zu tun hat, das erste, das mir einfiel, war Audens
Musée des Beaux Arts. Das habe ich zwar schon einmal in dem Post
William Carlos Williams gebracht, aber das macht nichts. Einen Brueghel besitzt Kiel natürlich nicht, aber dieses Bild muss natürlich hier abgebildet werden, ohne das Bild geht das Gedicht nicht:
About suffering they were never wrong,
The Old Masters; how well, they understood
Its human position; how it takes place
While someone else is eating or opening a window or just walking dully along;
How, when the aged are reverently, passionately waiting
For the miraculous birth, there always must be
Children who did not specially want it to happen, skating
On a pond at the edge of the wood:
They never forgot
That even the dreadful martyrdom must run its course
Anyhow in a corner, some untidy spot
Where the dogs go on with their doggy life and the torturer's horse
Scratches its innocent behind on a tree.
In Breughel's Icarus, for instance: how everything turns away
Quite leisurely from the disaster; the ploughman may
Have heard the splash, the forsaken cry,
But for him it was not an important failure; the sun shone
As it had to on the white legs disappearing into the green
Water; and the expensive delicate ship that must have seen
Something amazing, a boy falling out of the sky,
had somewhere to get to and sailed calmly on.