Samstag, 27. Juni 2020

Die Rote


Der nachträglich laminierte Pappband des Buches fällt schon ein wenig auseinander, das Buch ist sechzig Jahre alt und schon mehrfach gelesen. Vorne steht Leseexemplar drauf, und auf der Rückseite findet sich der Satz Die Herren Rezensenten und die Redaktionen werden gebeten, Besprechungen keinesfalls vor dem 10. September 1960 zu veröffentlichen. Dass auch Frauen Bücher rezensieren könnten, das konnte man sich beim Walter Verlag (bei dem auch Arno Schmidts Edgar Allan Poe Übersetzung erschien) nicht vorstellen. Die Herren Rezensenten hießen Robert Neumann (der in der Zeit die Rezension Mein Feind Alfred Andersch schrieb) und Marcel Reich-Ranicki, der seinem Hass auf den Autor auch noch nach einem halben Jahrhundert freien Lauf ließ: Das Urteil über die 'Rote', die ich vor genau fünfzig Jahren ausführlich (leider!) besprochen habe, lautet auch bei mir (damals und heute) 'grauenhaft und kitschig'. Dass der Roman 'ein wichtiges Werk der deutschen Nachkriegsliteratur' sei, ist Mumpitz und Humbug. Vielleicht hätte man beim Verlag nicht nur an die Herren Rezensenten denken sollen, sondern den Roman Die Rote von Alfred Andersch auch mal einer Frau zum Lesen geben sollen.

Ich war wenige Monate im Internet, als ich Marcel Reich-Ranicki zum erstenmal beleidigte, ich wiederholte das mit Vergnügen in dem Post Martin Walser, und ich könnte es ad infinitum wiederholen: der Mann mit dem prolligen Auftreten war nie ein seriöser Literaturkritiker. Er war auch nie ein Literaturwissenschaftler, dazu fehlte ihm das Rüstzeug; was er lautstark und häufig voller Haß abgab, waren Geschmacksurteile. Ich zitiere noch einmal etwas, was ich einem Kommentator des Walser Posts antwortete: Meine Abneigung gegen Herrn Reich-Ranicki beruht darauf, dass er nicht seriös ist und niemals seriös war. Er versteht, für einen Literaturkritiker erstaunlich, nichts von Literaturwissenschaft. Wahrscheinlich ist er sogar noch stolz darauf. Er ist ein Relikt der 50er Jahre, als man in Deutschland jemanden wie Benno von Wiese für einen bedeutenden Professor hielt. Die griechische Philosophie hatte eine nützliche Unterscheidung zwischen den Begriffen 'doxa' und 'episteme'. 'Doxa' ist die subjektive Meinung, dafür braucht es nicht viel. Der Gegenbegriff ist eine von Wissen und Kenntnis begründete Meinung. RR ist über den Bereich der 'doxa' nie hinausgekommen.

Im Internet hat ein gewisser Boris vom Berg (?) eine Seite, auf der er Bücher rezensiert. Dort findet sich auch eine Besprechung von Die Rote, die mit dem Zitat von Reich-Ranicki und den Sätzen endet: Dem ist meinerseits nichts hinzuzufügen! Fazit: miserabel. Aber nicht jedermann lässt sich diesen Unsinn bieten, und so findet sich dort auch ein schöner Kommentar: Schäbige Rezension: 3/4 ist Inhaltsangabe, davon die Hälfte fast wörtliches Zitat, einmal visuell durch die Erzählung geflogen, nichts verstanden. Jede Diffamierung unbegründet, am Ende wird für die Wirkung schnell noch die Nähe der eigenen Meinung zum ewigen Literaturpapst als Qualitätsnachweis mitgenommen: Dämlich und ohne jede glaubwürdige Aussage. Abstoßend selbstverliebt und enttäuschend … bullshit. Für so etwas ist man denn schon wieder dankbar.

Es hat 1960 auch andere Stimmen als die von Reich-Ranicki zu dem Roman von Andersch (hier in Mailand, wo auch der Roman beginnt) gegeben. So konnte man in der Hannoverschen Rundschau lesen: Ein außerordentliches Buch, eine Dichtung von Rang, brillant erzählt und erfüllt von der Erfahrung, der Erlebniskraft und dem Wissen eines Mannes, der mehr als einmal Gelegenheit gehabt hat, dieser unserer Zeit ins Notizbuch zu schauen. […]. Eine Geschichte von nahezu klassischer Einfachheit der Motive. Schauplatz ist das winterliche Venedig und es gehört zu den literarischen Ereignissen dieser Saison, von Alfred Andersch in die seltsame Atmosphäre der hier sonnenlosen, trüben, fast greisenhaften Stadt geführt zu werden. […]. Übrigens spricht es doch sehr für die Reife des heutigen literarischen Publikums, daß so ein anspruchsvoller Roman zum Bestseller werden kann.

Alfred Andersch hat in diesem Blog schon den Post Alfred Andersch, er taucht auch noch häufiger auf, zuletzt in dem Post Dümmer=Sex, weil er es war, der den Roman Seelandschaft mit Pocahontas seines Freundes Arno Schmidt veröffentlicht hat. Der Roman Die Rote wird in zwei Posts erwähnt, die beide mit dem Film zu tun haben: Steve Cochran und Ruth Leuwerik. In dem Post Steve Cochran geht es um Michelangelo Antonionis Film ✺Il Grido.

Fabio Crepaz, eine der Hauptfiguren von Die Rote, fühlt sich nach einem Kinobesuch von der Figur des Aldo (gespielt von Steve Cochran) existentiell berührt, er denkt sich - während er uns den Film nacherzählt - in Aldo hinein: Fabio rauchte eine Zigarette und dachte über den Mann nach, den er gestern nachmittag in dem Kino in der Calle Larga gesehen hatte, er hatte den Sonntag nachmittag benutzt, um sich Antonionis neuen Film anzusehen, Fabio liebte gute Filme leidenschaftlich, das Schauspiel faszinierte ihn stets von neuem, aber gestern hatte er mehr gesehen als einen Film, er hatte einen Mann beobachtet, den er nicht aus seinen Gedanken brachte, weil er ihn an etwas erinnert hatte, was ihm, Fabio, fehlte. Dieser Mann hatte sich vor seinen Augen in einem Gelände bewegt, das in Fabios Leben eine weiße Fläche geblieben war. Antonioni hatte ihn gezeigt wie ein Gelehrter, der ein seltsames Insekt vorführt; er wies ihn auf einer Fläche aus weißer Leinwand vor, weiter nichts; er überließ es Fabio, seine Schlüsse selbst zu ziehen.

Dass Literatur in den Film wandert, das kennen wir (Sie könnten jetzt mal eben den Post The Go-Between lesen), aber dass ein Film in die Literatur wandert und dort eine wichtige Rolle hat, das ist selten. Reich-Ranicki hat Antonionis Film Il Grido nicht gekannt, er kann ja alles besprechen, auch das, was er nicht kennt. Wahrscheinlich wäre Il Grido für ihn auch Mumpitz und Humbug. Für Andersch ist es das nicht, das kleine Kapitel Das Meer, in dem Fabio Crepaz den Film nacherzählt, hat eine strukturelle Bedeutung für den Roman.

Und dieses Bild von Giorgione (Der Sturm) auch: Für ihn war es die Darstellung der ewigen Trennung zwischen Mann und Frau. Auf dem einen Ufer saß die Frau, nackt und innig in ihren kleinen Fruchtbarkeits-Ritus verzaubert, hell beleuchtet, eine klare biologische Formel, während auf dem anderen Ufer der Mann stand, dunkel, schön, lässig, genießerisch, verliebt, er hatte schon ein Kind gezeugt, und das Glied spannte sich schon wieder im Lederbeutel der Tracht des Jahres 1500; jung und getrieben, geistig und rätselhaft, hatte er sich noch einmal umgewendet, aber das Wasser – 'er könnte leicht hinübergehen' – lag unüberschreitbar dunkel und tief zwischen ihm und der Mutter mit ihrem Kind indes der Wolkenhimmel aller Jahrhunderte von einem großen Blitz durchzuckt wurde.

Literarische Texte zitieren andere literarische Texte, das wissen wir, spätestens seit der Holländer Herman Meyer sein Buch Das Zitat in der Erzählkunst geschrieben hat, Literatur kommt von Literatur. Andersch geht mit seinem Zitieren noch ein wenig weiter, Intertextualität ist ein Stilmittel dieses Romans. Andersch erzählt viele Geschichten, die er kunstvoll verknüpft und stilistisch mit innerem Monolog und wechselnden Erzählperspektiven immer wieder variiert. Antonionis Film und Giorgiones Gemäldes haben mit Fabio Crepaz zu tun. Der war Kommunist (wie Andersch in jungen Jahren), war im Spanischen Bürgerkrieg, dann bei den italienischen Partisanen mit Zweiten Weltkrieg. Jetzt will er mit der Partei nichts mehr zu tun haben, jetzt ist er nur noch Geiger in der Oper von Venedig in diesem großen und vielschichtigen Roman über Italien. Ein Werk so denkwürdig wie selten - das Geschenk eines europäischen Schriftstellers an Italien, urteilte La Fiera Letteraria. Von Mumpitz und Humbug war in der Zeitschrift aus Rom nicht die Rede.

Wir sind für vier Tage im Winter in Venedig, wohin es die aus ihrer Ehe geflohene rothaarige Franziska verschlagen hat. Und wo sie in einen Kriminalroman gerät, in dem ein ehemaliger Beamter der Gestapo und ein ehemaliger britischer Geheimagent eine Rolle spielen. Ich bin in einen Kriminalroman geraten, das gibt es doch gar nicht, Kolportage gibt es doch gar nicht, es gibt keine 'gangs', keinen Untergrund, keine Verfolgungen, das sind doch Erfindungen von Chandler, von Spillane, denkt Franziska. Das ähnelt dem Satz einer Romanfigur in Graham Greenes The Ministry of FearThe thrillers are like life...The world has been remade by William Le Queux.

Der Roman ist sicher auch ein Kolportageroman, aber das ist für Andersch ein Mittel zum Zweck, um die Geschichte von Fabio und Franziska zu erzählen. Der Kritiker Kurt Lothar Tank hatte das scharfsinnig erkannt, als er damals schrieb: Das klingt nach Klischee und Kriminalroman, und das ist auch Klischee und Kriminalroman. Aber zugleich ist es, ähnlich wie bei Graham Greene, die einzig mögliche Doppelkulisse, in der es glücken kann, 'der Wahrheit' habhaft zu werden. Dass die Szenen zuweilen reißerisch sind, sagt auch Heinz Piontek, aber erfügt hinzu: So raffiniert wie hier hat Andersch wohl niemals wieder eine Geschichte eingefädelt, die Effekte sind genau kalkuliert. Wahrscheinlich ist es diese Ebene des Romans, die ihm einen großen Erfolg bei den Lesern bescherte.

Aber die beiden anderen Geschichten, die von Fabio Crepaz und der Romanheldin Franziska (die Antonionis Film auch im Kino gesehen hat), sind viel interessanter. Wann haben wir im deutschen Roman der Nachkriegszeit schon einmal eine solche Frauenfigur? Intelligent und gebildet, sicher und unsicher zugleich. Und Sex ausstrahlend, sodass die Männer ihr und ihren wehenden roten Haaren bewundernd und obszön nachstarren. Leser werden heute Ruth Leuwerik vor Augen haben, die in Käutners Verfilmung die Franziska spielt. Sie hat mit der Romanfigur wenig gemein, sehr, sehr wenig.

Andersch, der an dem Film ✺Die Rote mitzuarbeiten versucht hatte, schreibt an seinen Freund, den italienischen Komponisten Luigi Nono, nachdem der Film von den Kritikern verrissen worden war: Eines der schrecklichsten Erlebnisse meines Lebens. Alles Kitsch, Kitsch, Kitsch! Käutner und die Dame Leuwerick haben alles kaputt gemacht. Ich hätte mich nie auf eine Zusammenarbeit mit diesen Leuten einlassen dürfen… Ein Jahr verloren! Das einzig Positive war die Kameraarbeit des Italieners Otello Martelli, dem es in den Außenaufnahmen gelingt, den genius loci Venedigs, der auch den Roman beherrscht, einzufangen. Er war nicht irgendjemand, er hatte Meisterwerke ✺Bitterer Reis und La Strada photographiert. Aber gegen die Leuwerik und einen vollgekoksten Käutner kommt auch der beste Kameramann nicht an.

Man mag sich nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn Michelangelo Antonioni den vom Neorealismus und Existentialismus geprägten Roman von Andersch verfilmt hätte. Allerdings ist sein Film ✺L'avventura (aus dem dieses Bild stammt) in Cannes ausgebuht und ausgepfiffen worden. Manche Regisseure sind ihrer Zeit voraus. Manche Romanautoren auch. Mit den Mitteln des Stilisten und bewußten Erzählers gestaltete Alfred Andersch hier einen der bedeutenden, von intensiver Wirklichkeit vibrierenden Roman der zeitgenössischen europäischen Literatur, steht hinten auf dem Cover von meinem Leseexemplar, der Verlag deutet den Herren Rezensenten schon an, was sie schreiben sollen.

Die einunddreißigjährige Franziska Lukas verläßt in Mailand, wo sie sich mit ihrem Mann auf Geschäftsreise befindet, plötzlich ihren Mann und setzt sich in den Zug nach Venedig: »Bahnsteig sieben«, sagte er höflich. Eine Ausländerin. Irgendwohin. Sie sind verrückt oder Huren oder beides. Eine Ausländerin, die irgendwohin fahren will und Geld genug hat, um ein Rapido-Billet nach Venedig zu bezahlen. Ein Viertel meines Monatsgehalts. Eine verrückte Hure. Wie ihre Haare flattern. Eine Rothaarige. Keine Italienerin läßt ihre Haare so flattern. Er sah ihr nach, bewundernd und obszön. Sie will nicht zurück nach Dortmund zu ihrem Geliebten, der der Chef ihres Mannes ist, sie gibt diese verlogene Dreiecksbeziehung auf. Sie gibt auch die materielle Sicherheit im Deutschland des Wirtschaftswunders auf. Sie ist sich nicht sicher, ob sie schwanger ist. Ihr Mann rät ihr am Telephon zur Abtreibung, aber sie kann sich nicht entscheiden. Sie ist eine starke Frau, aber sie ist auch unsicher. Sie hat so gut wie kein Geld bei sich, sie will bei einem Juwelier einen Brillantring verkaufen, der einmal sehr teuer war.

Der Erzähler läßt uns an den Gedanken des Juweliers teilhaben: Das ist eine, die sich auskennt. Eine Erfahrene, man sieht es ihr an. Aber nicht so erfahren, um sich wirklich wehren zu können, auch das sieht man ihr an. Eine Rote, wenn ihr Haar nicht gefärbt ist, eine sehr schöne Rote aus Deutschland, die Roten sollen gut sein im Bett, sie ist eine Feine, eine squisita, und sie kann sich nicht wehren. Ihr Haar ist nicht gefärbt und ihre Brillanten waren lupenrein. 'Sie sind in Schwierigkeiten', Signora, sagte er freundlich, 'ich will Ihnen entgegenkommen. Achtzehntausend, weil ich Ihnen glaube, dass der Ring von Carstens ist.' […] Sie sagte nichts, sie nickte nur, fast unmerklich, und er verstand sofort, ich habe das Geschäft gemacht. Was der Juwelier denkt, was Franziska denkt, was der Beamte am Schalter denkt, ist im Roman durchgehend in Kursivschrift gesetzt, das erleichtert das Lesen.

Da sind eine Menge Klischees und Platitüden in den Sätzen, aber der Autor streut das so mit leichter Hand dahin, er hat noch viel mit seiner Romanfigur mit den roten flatternden Haaren vor. Von der Handlung des Kolportageromans ganz abgesehen. Auf einer interessanten Internetseite bringt ein Interpret Franziskas Suche nach Freiheit mit der Zeile Freedom's just another word for nothing left to lose von Janis Joplin in Verbindung. Und damit sind wir wieder beim Existentialismus. Sartre, den Andersch nach dem Krieg häufig las, hat gesagt: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.

Mit dieser Freiheit muss Franziska jetzt leben. Sie wird in Italien bleiben und ihr Kind bekommen, selbst wenn sie weiß, dass ihre neue Heimat auch nur eine neue Fiktion ist: ich habe mich immer nur für diese Häuser interessiert, ich wollte hinter das Geheimnis solcher Häuser kommen, ganz Italien besteht aus solchen Häusern, in denen die Leute abends im Dunkeln sitzen und Geheimnisse bewahren, arme, bittere, leuchtende Geheimnisse, wahrscheinlich ist das Ganze eine literarische Idee, ausgelöst von neorealistischen Filmen, ein bißchen Faszination von der Poesie südlichen Proletariats, das italienische Proletariat ist literarisch en vogue, aber vermutlich bedankt es sich dafür, vermutlich wünscht es, auf die Poesie zu verzichten, wahrscheinlich findet es nicht einmal Geschmack an jenen Filmen, die zwar sein Leben zu verändern wünschen, aber zugleich dem optischen Zauber dieses Lebens verfallen sind.

Die negativen Kritiken, wie zum Beispiel die von Herrn Reich-Ranicki, hatten beim Autor Spuren hinterlassen. Er hat den Roman, den er am 29.12.1957 in Venedig begann und am 20.12.1959 in Berzona beendete, umgeschrieben. Das letzte Kapitel Das Geheimnis alter Häuser wurde ganz gestrichen, der 1972 neu erschienene Roman hat jetzt ein offenes Ende. Ich selbst halte das für einen Fehler, mir genügt mein Leseexemplar, das mich vor Jahrzehnten eine Mark gekostet hat. Es ist nach sechzig Jahren immer noch ein großartiger Roman.


Lesen Sie auch: Alfred AnderschSteve Cochran und Ruth Leuwerik. Sie können übrigens heute im Radio bei DLF Kultur Der Tod des James Dean von Alfred Andersch hören.

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