Donnerstag, 28. Mai 2020

Geier-Wally

Tief unten durchs Ötztal zog ein fremder Wanderer. Oben in Adlershöhe über ihm am schwindelnden Abhang stand eine Mädchengestalt, von der Tiefe heraufgesehen nicht größer als eine Alpenrose, aber doch scharf sich abzeichnend vom lichtblauen Himmel und den leuchtenden Eisspitzen der Ferner. Fest und ruhig stand sie da, wie auch der Höhenwind an ihr riß und zerrte, und schaute nieder schwindellos in die Tiefe, wo die Ache brausend durch die Schlucht stürzte und ein schräger Sonnenstrahl in ihrem feinen Sprühregen schimmernde Prismen an die Felswand malte. Auch sie sah winzig klein den Wanderer und seinen Führer dahinziehen über den schmalen Steg, der in Turmeshöhe über die Ache führte und von da oben einem Strohhalm glich. Sie hörte nicht, was die beiden sprachen, denn aus der Tiefe drang kein Laut herauf als das donnernde Brausen des Wassers. Sie wurde nicht gewahr, daß der Führer, ein schmucker Gemsjäger, drohend den Arm erhob, zu ihr hinauf deutete und zu dem Fremden sagte: »Das is g'wiß die Geier-Wally, die dort oben steht, denn auf den schmalen Vorsprung, so nah an n' Abgrund, traut sich kei andres Madel; schauen's, ma meint, der Wind müßt' sie 'runterwehen, aber die tut immer's Gegenteil von dem, was jeder vernünftige Christenmensch tut.« Das sind noch mal Romane, die so anfangen. Wenn Sie weiterlesen wollen, bitte hier ist der Text.

Es ist ein Roman, der unzählig oft verfilmt wurde. Von Heidemarie Hatheyer bis zu Christine Neubauer wollte offensichtlich jede Schauspielerin diese wilde Schönheit Walburga Stromminger (die in der Wirklichkeit Anna Stainer-Knittel hieß) spielen, die dann in der Filmwerbung als Teufelsweib apostrophiert wird. Christine Neubauer ist aber besser bei München 7 aufgehoben als in der Welt der Berge. Die Figur der freiheitsliebenden Wally (I lass mi net zwingen! I bin koa Stück Vieh) der Autorin Wilhelmine von Hillern machte den Roman zu einem Publikumserfolg.

Die Autorin schrieb den Roman 1880 zu einem Theaterstück um, das an zahlreichen deutschen Bühnen aufgeführt wurde. Theodor Fontane sah das Stück 1881 in Berlin und war ergriffen: Ich wurde drei Stunden nicht nur gefesselt, sondern abwechselnd erschüttert und erhoben. Die Macht der Poesie war stärker als das immer wieder sich regende kritische Bedenken. Er lobte in seiner Besprechung, dass hier richtige Menschen das Richtige sagen und das Richtige tun, und dies Richtige tun zu richtiger Zeit und am richtigen Ort. Er war aber auch als Theaterkritiker versiert genug, um zu betonen, dass das Stück seiner glänzenden Eigenschaften unerachtet, mehr in die Reihe der Kometen als in die der Dauer-Sterne gestellt werden sollte. Das Filmbild hier zeigt weder Heidemarie Hatheyer noch Christine Neubauer, sondern die Tierfreundin Barbara Rütting in dem Film von 1956.

Doch bevor die Filme kamen, kommt erst einmal die Oper La Wally von Alfredo Catalani. Die am 20. Januar 1892 ihre Uraufführung in der Scala in Mailand hatte. Ein Jahr nach der Premiere ist der Komponist an der Schwindsucht gestorben. Die Oper könnte man vergessen (obgleich Toscanini sie mochte und sogar seine Tochter Wally taufte), wenn da nicht diese Arie Ebben? Ne andrò lontana wäre. Ich gebe aber gern zu, dass ich eine Gesamtaufnahme mit Renata Tebaldi besitze. Es gibt ja Opern, die nur von einer einzigen Arie leben. Wie Mozarts Zaide. Da braucht man keine Gesamtaufnahme, eine Aufnahme von Ruhe sanft, mein holdes Leben reicht völlig aus. Am besten mit Sandrine Piau, die das wunderbar singt. Catalanis Ebben? Ne andrò lontana gab es schon als Konzertarie, bevor dieser musikalische Dauerbrenner in die Oper kam. Da hieß es allerdings Chanson Groënlandaise und war auf einen Text von Jules Verne geschrieben:

Le ciel est noir,
Et le soleil se traîne

À peine!
De désespoir
Ma pauvre âme incertaine
Est pleine!
La blonde enfant se rit de mes tendres chansons,
Et sur son coeur l'hiver promène ses glaçons!


Einem großen Publikum wurde die Arie durch Jean-Jacques Beneix' Film Diva bekannt (in dem die französische Porno Diva Brigitte Lahaie eine kleine Nebenrolle spielt), wo die Arie von Wilhelmenia Fernandez gesungen wird. Beneix, den Pauline Kael in ihrer Filmbesprechung als Carol Reed reborn with a Mohawk haircut bezeichnete, hat mit seinem ersten Spielfilm Diva einen perfekten postmodernen Film gedreht. Einen Krimi, eine Liebesgeschichte und ein bisschen große Oper. Die dunkelhäutige Amerikanerin mit dem weißen Kleid passt da wunderbar in den Film. Sie singt auch die Arie ganz nett, für den Film reicht es. Aber sie hat doch Schwierigkeiten, die Höhen zu erreichen. Hören Sie hier einmal hinein.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir natürlich sagen, dass andere das besser gesungen haben. Es ist eine Arie, die kein Sopran auslässt. Die Netrebko erst recht nicht. Wahrscheinlich hat sogar Florence Foster Jenkins den Part gesungen. Falls Ihnen der Name jetzt nichts sagt, hören Sie doch einmal hier hinein, wo sie Mozarts Königin der Nacht hinrichtet. Man muss es mal gehört haben, sonst glaubt man es nicht. Natürlich sollte Der Hölle Rachen kocht in meinem Herzen eher so klingen. Aber bei YouTube kann man heutzutage eine Vielzahl von Kiddies sehen, die Florence Foster Jenkins Konkurrenz machen. Muss dieser musikalische Müll sein?

Ebben? Ne andrò lontana ist eine Bravourarie, von der es meiner Meinung nach nur eine ultimative Aufnahme gibt. Nicht die Netrebko, nicht Diana Damrau (das sollten Sie wegen des Kostüms anklicken), die augenblicklich Konjunktur hat. Nein, da gibt es natürlich nur die Callas:

Ebben? Ne andrò lontana,
Come va l'eco della pia campana,
Là, fra la neve bianca;
Là, fra le nubi d'ôr;
Laddóve la speranza, la speranza
È rimpianto, è rimpianto, è dolor

Und Callas Fans lesen jetzt natürlich noch: Primadonna assoluta.

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