Mittwoch, 13. Mai 2020

Die Mädchen


Das Aufräumen von einer Schublade der Kommode im Wohnzimmer hat vieles wieder auftauchen lassen. Also zum Beispiel die alten Tagebücher, das hatte ich schon erwähnt. Aber auch alte Photos. Eins von einer Kriegshochzeit, auf dem ein Verwandter zu seiner schicken Uniform ein Schwert an einer Parade Feldbinde trägt. Und eine weiße Mütze, es ist Sommer. Das war eins der Photos, die ich vermisste, ansonsten habe ich die Familie zurück bis 1890 auf Photographien in Photoalben. Meine Mutter war damals zwanzig, sieht aber in ihrem Kostüm schon sehr erwachsen aus. Schön wie ein Hollywoodstar der dreißiger Jahre. Es sind da noch mehrere Offiziere mit Schwertern und weißen Handschuhen auf dem Hochzeitsbild, die ich aber nicht kenne. Sie wirken alle sehr fröhlich, die meisten von ihnen sind wenige Jahre später tot.

Ich fand auch Berge von Liebesbriefen, unter anderem von dieser Frau, über die ich schon häufiger geschrieben habe. Dass da Briefe von ihr in der Schublade waren, war eine Überraschung, ich vermutete die irgendwo anders. Auf diesem Photo aus Kopenhagen, das sie mir einmal geschenkt hat, tut sie für den Photographen so, als ob der englische Sportwagen ihr gehörte. Davon träumt man, wenn man achtzehn ist. Von Luftwaffenoffizieren mit Parade Feldbinde, weißen Handschuhen und Schwert träumen Mädchen im Jahre 1961 nicht mehr.

Diese junge Frau braucht nicht mehr von englischen Sportwagen zu träumen, sie besitzt einen. Auch wenn sie noch nicht so richtig mit ihm umgeben kann. Sie ist genauso alt wie die Ingrid, die ihr Leben lang von Catherine Deneuve schwärmen wird. Ingrids Briefe waren ein halbes Jahrhundert alt, aber immer noch schön. Es muss noch neuere geben. Vielleicht sollte ich mal die nächste Schublade der Kommode aufmachen. Dass da Briefe von Ute, Traute und Gudrun in dieser Schublade waren, das hatte ich immer gewusst. Ich habe manche Briefe gelesen, ich hätte manches beantworten können, was hier an Fragen stand, aber Traute und Gudrun sind tot, die sind nur in ihren Briefen lebendig. Aber sehr lebendig.

Wir redeten damals viel, aber wir fanden vielleicht nicht die richtigen Worte. Es ist nicht leicht, das Zauberwort zu finden, sodass die Welt zu singen anhebt. Ich redete damals auch viel, aber ich wusste nicht, was ich wollte. Da war ich wie Jean-Louis Trintignant in dem Film Ma Nuit chez Maude, zu dem Françoise Fabian J 'aime bien les gens qui savent ce qu'ils veulent sagt, als er sich nach einer Nacht, in der nichts passiert ist, ihr zu nähern versucht. Aber was wir uns nicht sagen konnten, schrieben wir in Briefe, unsere Gefühle, Gedanken, Träume und Hoffnungen. Der Satz von Joan Didion aus On Keeping a NotebookI think we are well-advised to keep on nodding terms with the people we used to be, whether we find them attractive company or not, hat schon seine Bedeutung. In den alten Briefen begegnen wir unserem alten Ich wieder.

Aber um diese Mädchen soll es heute nicht gehen. Der Titel des Posts, ist nämlich auch der Titel eines alten Filmes, den ich einmal gesehen habe. Hätte ich so nicht mehr gewußt, stand aber in einem alten Tagebuch: Zetterling Die Mädchen. Kein Wort mehr, meine Tagebücher sind für nichts nutze. Aber ich wusste noch, dass es ein schwedischer Film war, und dass ich wegen dieser jungen Frauen im Kino gewesen war.

Drei schwedische Schauspielerinnen, die man aus den Filmen von Ingmar Berman kennt. Schwedinnen beherrschten ja damals die Leinwand. Selbst wenn sie in italienischen Filmen auftauchten, wie Anita Ekberg im Trevi Brunnen. Frauen, die wie Schwedinnen aussahen, waren auch OK. Wie zum Beispiel Virna Lisi, von der ich hier ein kleines Video mit dem wunderbaren Jazztrack von Helen Merrill und Stan Getz habe.

Das Video ist nicht aus dem Film Die Mädchen, gute Filmusik hatten die schwedischen Filme nicht. Ich habe mir mal in Paris ein halbes Dutzend Platten mit Musik aus französischen Filmen gekauft, aber ich wäre in Stockholm, wo ich nur ein einziges Mal war, nicht auf die Idee gekommen, eine Platte mit schwedischer Filmmusik zu kaufen.

Der Film lief damals nicht in einem normalen Kino, sondern in einem Filmkunsttheater, hieß studio für filmkunst. Kleingeschrieben. So etwas gab es damals noch. Es gab auch überall Filmclubs. Selbst das Angebot der Filme in unserem Schülerfilmclub war auf hohem Niceau, wie zum Beispiel Tod eines RadfahrersSie küssten und sie schlugen ihn oder Asche und Diamant.

Ich merkte in der Dunkelheit des Filmkunsttheaters schnell, dass ich im falschen Film war. Zwar waren Bibi Andersson, Gunnel Lindblom (die bei Bergman in Das siebente SiegelWilde Erdbeeren und Das Schweigen zu sehen gewesen war) und Harriet Andersson in dem Film, wie das Programm es versprochen hatte, aber das Ganze war doch etwas wirr und chaotisch. Das sollte wohl auch so sein, schließlich schrieben wir das Jahr 1968. Da gehörte Chaos zum Alltag.

Es war der vierte Spielfilm der Regisseurin Mai Zetterling. Zwei ihrer Filme waren zuvor bei Filmfestspielen abgelehnt worden. ✺Liebende Paare , eine Literaturverfilmung (aus der dieses Bild stammt), wurde in Cannes nicht angenommen. ✺Verschwiegene Spiele, die Verfilmung eines eigenen Romans der Regisseurin, wurde in Venedig vom Wettbewerb ausgeschlossen. Das alles wusste ich damals nicht, ich wusste zwar eine ganze Menge über Antonioni und den französischen Film, aber ich hatte keine Ahnung, dass ich gerade eine Kinokarte für den ersten feministischen Film der Filmgeschichte gekauft hatte.

Drei Schauspielerinnen sind auf Tournee, sie spielen Aristophanes' Komödie Lysistratha. Das ist das Stück mit dem Liebesstreik, make love not war. Zwei der Schauspielerinnen sind verheiratet, eine hat einen Geliebten. Bibi Anderson, die die Lysistrata spielt, wird am Ende des Filmes erklären, dass sie sich scheiden lassen wird.

Je weiter die drei Hauptdarstellerinnen Liz, Marianne und Gunilla in ihre Rollen eindringen, desto mehr vermischen sich ihre Wunschvorstellungen und Träume mit der äußeren Wirklichkeit. Im Lauf der Tournee wird ihnen der Zusammenhang zwischen ihren Bühnenrollen und ihrer Situation als Frau im wirklichen Leben immer bewusster. Kontaktversuche mit dem Publikum, um die Botschaft des Stücks zu diskutieren, misslingen. Das steht auf der Seite vom Internationalen Frauenfilmfestival.

Es ist ein wilder Film, confused and disorganized, befand ein Kritiker, aber Konfusion und Desorganisation sind ein gewolltes Stilmittel des Films, in dem auch immer wieder Ironie und Humor aufblitzen. The film, despite some gigantic blunders, does offer up an often entertaining, often confrontational look at the role of women in film at the time. This is the sort of investigational piece that no filmmaker would dare to tackle today for fear of alienating the popular ticket-buying audience: young men and families. The only thing The Girls really does effectively is make one long for the day when such feminine cinematic experiments were both popular and permitted, sagt der Schauspieler Matt Mazur in seiner Rezension des Filmes.

Der Film war bei den Kritikern kein Erfolg, er war seiner Zeit zu weit voraus. Vom Inhalt wie der Ästhetik. Wenn wir mal eben einen Blick auf die deutschen Filme des Jahres 1968 werfen, dann haben wir da außer Zur Sache, Schätzchen nur Oswald Kolle Filme und Die Lümmel von der ersten Bank. Der Rest der Top Ten sind Softporno Filme wie Frau Wirtin hat auch einen Grafen. Auf dem vorletzten Platz steht Die Nichten der Frau Oberst, aber das ist noch nicht  Klassiker mit Brigitte Lahaie und Karnie Gambier. Und da passt Mai Zetterlings Film, den Simone de Beauvoir den besten von einer Frau gedrehten Film genannt hat, nun überhaupt nicht hin. Simone de Beauvoir hätte Mai Zetterling gerne als Regisseurin einer Verfilmung von Le Deuxième Sexe gehabt, aber aus diesem Plan ist nichts geworden.

Ich stelle neben das Bild von Mai Zetterling, die als Schauspielerin berühmt war, bevor sie Romane schrieb und Regisseurin wurde, hier noch eine schöne Rezension von einer jungen Kunsthistorikerin namens Alex Kittle hin: Alternating between Grecian theatrics and dreamlike wanderings, Mai Zetterling's take on Lysistrata is a frank, funny, and introspective glimpse into the lives of three actresses, whose romantic experiences intersect with the themes of the play as they are performing it on tour. Through internal monologues, fanciful dream sequences, readings from the text, and slice of life moments, the film expounds upon its themes of patriarchal traditions in the supposedly "modern" age as well as the idea of passive vs active consumption of culture. It's not exactly subtle in its gender politics but the earnest performances, stylish visuals, and almost playful construction made for an enjoyable and thought-provoking watch. I think I loved it. No wait: I did! 

Dem kann man nur zustimmen. Ich habe zum Schluß noch einen kleinen pointierten Dialog aus dem Film zwischen den Schauspielern Erland Josephson und Gunnar Björnstrand (beide auch aus der Ingmar Bergman Truppe): 'Weißt du was ich denke? Dass Frauen nie existiert haben.'  'Ja, wir haben uns immer so verhalten, als ob sie es auch nicht getan hätten.'

Die DVD zu dem Film ist schwer erhältlich, aber bei mir können Sie den Film natürlich sehen. Klicken Sie einfach auf ✺Flickorna, und schon sind Sie in der Welt von 1968. Ganz ohne Kinokarte.

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