Samstag, 28. September 2024

BB zum 90. Geburtstag

 Ich habe den Song noch in den Ohren:

Brigitte Bardot, Bardot Brigitte Bardot, bravo! Aucune fille au monde N’est aussi sympa que toi
Brigitte Bardot, Bardot Brigitte Bardot, bravo! Pour toi, toutes les secondes Chaque homme a le cœur qui bat

Sang 1961 ein gewisser Dario Moreno, Sie können das hier hören. Brigitte Bardot ist in diesem Blog keine Unbekannte. Ich habe das Suchfeld bemüht und war überrascht, wie oft sie hier auftaucht. Einmal hätte ich beinahe an ihrem Geburtstag über sie geschrieben, aber dann schrieb ich doch über Angie Dickinson. Wo ich auch erwähnte, dass mein Freund Keith einen Morgan besitzt, der einmal Brigitte Bardot gehört hat. Habe ich mal drin gesessen, da wo Brigittes Po war. Näher bin ich ihr nicht gekommen. Sie hatte ja auch einmal eine Renault Floride, und sie war ja genau wie Renault ein Exportartikel für Frankreich. Hat de Gaulle so gesagt. 

Brigitte Bardot wird heute neunzig, da sollte ein Post über die französische Darstellerin nicht fehlen. Den Film hier kennen Sie vielleicht nicht, es ist nicht der typische Bardot Film. Der Film, der BB und Dirk Bogarde vereinte, hieß Doctor at Sea. Das war einer ihrer ersten Filme, bevor sie im nächsten Jahr mit  … und immer lockt das Weib (Et Dieu créa la femme) weltweit bekannt wurde. Es war eine dieser liebenswert harmlosen Komödien, die die Engländer mit leichter Hand produzierten. Dirk Bogarde (der hier einen langen Post hat) hat in der Hälfte dieser Doktorfilme mitgespielt, er hätte wohl gerne etwas anderes gespielt als den Dr Simon Sparrow, aber er hatte diesen Vertrag mit Rank, aus dem er nicht herauskam. Wenn Sie eine Szene aus diesem Film (mit Mondlicht, aber ohne Mandolinen) sehen wollen, klicken Sie dies an. Wenn Sie den ganzen Film sehen wollen, dann klicken Sie oben den Filmtitel an. Dies Bild ist aus der letzten Szene des Films. Es gibt ein happy ending, sie kriegen sich. Im wirklichen Leben nicht.

Den Schauspieler James Robertson Justice, der wohl die erstaunlichste Lebensgeschichte von allen englischen Filmschauspielern hat (und den wir aus Captain Horatio Hornblower und Moby-Dick kennen), wird Brigitte Bardot in dem Film Le Repos du Guerrier wiedertreffen. Ich musste die Platte mit der Filmmusik hier mal abbilden, ich habe sie nämlich noch immer. Habe ich in Paris gekauft, als ich diese schlimme Exi Phase mit französischen Philosophen, französischen Filmen und französischen Chansons hatte. Die Filmmusik ist von Michel Magne, der auch Lieder für Juliette Gréco geschrieben hat.

Den Komponisten der Filmusik von Doctor at Sea sollte ich auch erwähnen. Es ist ein gewisser Robert Bruce Montgomery. Krimifreunde kennen ihn unter dem Namen Edmund Crispin. Ich weiß nicht so recht, warum ich noch nie über meinen Lieblingsautor geschrieben habe. Irgendwann schreibe ich mal über ihn, bis dahin  müssen Sie sich damit begnügen, das zu lesen, was in den Posts Inspector Lewis und Michael Innes steht.

Für diese Szene hinter dem Duschvorhang hatte man in den Pinewood Studios ein fleischfarbenes Trikot für Mlle Bardot vorgesehen. Sie hat es einmal anprobiert. Und duschte dann nackt. Zur Begeisterung aller Beteiligten im Studio. Only one character has been brought foreward [from Doctor in the HouseDr Simon Sparrow, again played by Dirk Bogarde, whose comedy touch gets more and more assured with every film... And for sheer enchantment there is little Brigitte Bardot the prettiest and sauciest girl the French have sent British Studios since Odile Versois, schrieb das Magazin Picturegoer. Und Brigitte Bardot, die nur ein einziges Wort Englisch konnte (und das war No!), sagte selbstironisch über den Film, dass er ihr conquête d'Angleterre gewesen sei.

Auf diesem Bild tanzt sie zwischen zwei Männern: Curd Jürgens, der seit dem Film Et Dieu… créa la femme (... und immer lockt das Weib) den Beinamen normannischer Kleiderschrank hat und Jean-Louis Trintignant. Der trägt ein hervorragend geschneidertes Tweedjackett, aber man merkt auch, dass er ziemlich klein ist.

Curd Jürgens ist natürlich viel größer. Er hat auch einen guten Schneider, aber die Bardot wird mit dem kleinen Jean-Louis eine Liebesaffäre haben. Das steht schon ausführlich in dem Post Jean-Louis TrintignantMan konnte vor einem halben Jahrhundert den Eindruck haben, dass französische Filme nur deshalb gedreht wurden, um die Schneiderkunst zu demonstrieren, von der die Hauptdarsteller umhüllt wurden. Frauen waren dabei nur ein zusätzliches dekoratives Element. Wir werden nur einen Augenblick von den Beinen von BB abgelenkt, aber unser Blick fällt auf Jean Gabin, der die Szene in Mit den Waffen einer Frau beherrscht. Die nur mit einem Pelz bekleidete Bardot (1958 trug sie so etwas noch) hat hier eher den Charakter eines Möbelstücks.

Sie ist (und dies ist natürlich ein Filmphoto aus Et Dieu… créa la femme) als Sexsymbol vermarktet worden - und sie hat sich als Sexsymbol vermarkten lassen. Das Heyne Filmlexikon urteilte über den Film: Geiler Groschenroman, in dem sich BB gekonnt in Szene setztWenn man sich dieses Interview aus dem Jahre 1956 anschaut, dann sagt man unwillkürlich: Gott, ist die niedlich. Damals ist die Tochter eines reichen Industriellen zweiundzwanzig, wie eine erwachsene Frau wirkt sie nicht.

1956 ist das Jahr, in dem sie mit Roger Vadim als Regisseur Et Dieu… créa la femme dreht, da war sie noch mit Vadim verheiratet. Aber sie verlässt ihn und lebt zwei Jahre mit Trintignant zusammen (was dessen Ehefrau Stéphane Audran nicht so gerne gesehen hat). Den Ruf von ... und immer lockt das Weib wird sie jetzt nicht mehr los. Im gleichen Jahr dreht sie einen Film, der Das Gänseblümchen wird entblättert heißt.

Die französische Marianne (1968 von Bardot) verkörpert, knöpft sich jetzt - symbolisch gesprochen - das Mieder auf. Das musste kommen, hatte doch schon Delacroix die Freiheit mit nacktem Busen gemalt (eine Pose, die Caroline de Bendern 1968 bekleidet wiederholte). Jetzt muss im französischen Film aux seins nus sein, man wollte das nicht den Schweden und Ingmar Bergmans Das Schweigen überlassen. Und was BB kann, dass kann MM (Bild) schon lange. Michèle Mercier wird in den sechziger Jahren als Angélique berühmt werden. Und dann hätten wir da noch die Blondinen Mylène Demongeot und Mireille Darc (die hier einen viel gelesenen Post hat). Mireille Darc hat es geschafft, dass die Presse ihr Privatleben respektierte. Was Brigitte Bardot nicht hingekriegt hat. Oder auch gar nicht wollte.

Vielleicht war der Film Vie privée von Louis Malle ein Stück Autobiographie, Ich habe nie wirklich gelebt. Ich konnte nie in ein Bistro gehen oder einkaufen. Nicht ein einziges Mal, seit ich im Kino gearbeitet habe, hat sie vor Tagen in einem Interview gesagt. Auf jeden Fall war es zum ersten Mal nach La Vérité (1960), den arte vor Monaten zeigte, ein guter Film mit einem guten Regisseur. Der Film kommt schon in dem Post vor, der Gregor von Rezzori heißt, deshalb lasse ich den jetzt mal weg. Mit Louis Malle (und wieder mit Rezzori) wird sie auch Viva Maria! drehen. An der Seite von Jeanne Moreau, die keinen Schmollmund, aber eine ganz andere Karriere hat. Weil sie eine richtige Schauspielerin und kein bloßes Sexsymbol war. Sie kommt hier in dem Post Fahrstuhl zum Schafott vor und hatte 2017 einen langen Nachruf.

Brigitte Bardot hat dann noch einen Film mit Godard gedreht. Habe ich damals gesehen, weil man ✺Godard sehen musste, die Nouvelle Vague war angesagt. Aber ich habe Godard nie wirklich gemocht (À bout de souffle und Alphaville ausgenommen), was man auch daran sieht, dass ich eine Vielzahl von Posts über das französische Kino geschrieben habe, ohne ihn jemals ausführlich zu behandeln. Ich fand den Film banal, der einzige Lichtblick war Jack Palance (hier am Lenkrad des roten Alfa Romeo). Für Godard Fans gibt es hier eine Analyse des Films.

Der spanische Drehbuchautor und Regisseur Jose Luis Guarner hat über den Film gesagt: Conscious of Brigitte Bardot’s limitations, he [Godard] has avoided adapting the character of Camille to the personal legend of B.B. and has tried the opposite course, starting from the fact that it is B.B. who plays Camille… During the course of Le Mépris, we never forget that we are seeing B.B. and not Camille, but we soon grow accustomed to it: we accept her acting just as we accept that Palance “is” Prokosch and Lang “is” Lang”.

Und um die limitations der Bardot wettzumachen, hat Godard neben der Badewannenszene mit Michel Piccoli noch eine ✺Szene gedreht, die nicht im Drehbuch stand. Wo BB das tun konnte, was sie am besten konnte: sich nackt auf dem Bett räkeln. Es war nicht seine Idee, es war die Idee der amerikanischen Geldgeber. Wenn jemand sagt Non, non, ça ne va pas, je veux voir le cul de Bardot, dann muss das gedreht werden. 

Der Text zu den Bildern ist aber wahrscheinlich sehr ironisch, vielleicht sind die Fragen der Bardot gar nicht an Michel Piccoli gerichtet, sondern richten sich an die amerikanischen Geldgeber: Tu les trouves jolies mes fesses? Et mes seins, tu les aimes ? Qu’est-ce que tu préfères : mes seins ou la pointe de mes seins? »« Alors, tu les as bien réclamées, tu les aimes mes fesses? Hein? Dis? On les voit assez, ça va?

Der Blondschopf da rechts in dem Alfa gehört ihr. Das ist das Ende von Le Mépris, Brigitte Bardot stirbt (wie schon in Vie privée) den Filmtod. Vielleicht hätte sie jetzt aufhören sollen. Aber sie musste ja weiter Filme drehen. Zumeist belangloses Zeug. Wie zum Beispiel Petroleum Miezen. Den Film A Coeur Joi (Zwei Wochen im September) fand ich nett (aber harmlos), da war James Robertson Justice wieder dabei. 

Er spielte (diesmal im Kilt) sozusagen sich selbst. Denn wenn er hier einen Ornithologen spielt, dann versteht er etwas davon. Das Multitalent James Robertson Justice, der einen Doktortitel von der Universität Bonn besaß, war Gründungsmitglied des Wildfowl Trust und hatte Prince Charles in der Kunst der Falkenjagd unterrichtet (die er selbst in den fünfziger Jahren von Phillip Glasier erlernt hatte). 

Brigitte Bardot hat in ihren Memoiren über James Robertson Justice gesagt, dass er ein wahrer Gentleman sei. Sie fand Gregor von Rezzori très sympa, aber er fand sie ein wenig doof (lesen Sie hier unbedingt Bonjour, Gricha! Gregor von Rezzori über seine Dreharbeiten mit BB). Viel mehr als der Schmollmund und der Po war da wohl nicht. Aber Schönheit ist vergänglich, das sagen uns schon die Barockdichter. Die Bardot mochte diese älteren Männer wie Curd Jürgens, James Robertson Justice und Gregor von Rezzori. Vielleicht waren sie ein Ersatz für den Vater, der sie nur verprügelt hat und ihre jüngere Schwester mehr liebte als sie.

Wirklich gute Rollen, also diese Rollen, die Jeanne Moreau und Catherine Deneuve bekommen, erhält die Blondine nicht mehr. Sie hat Jahre nachdem Truffauts La Sirène du Mississipi in die Kinos  kam, behauptet, dass François Truffaut ihr die Rolle versprochen hätte, die Catherine Deneuve bekommen hatte. Je suis ravie que ce soit un tel bide, parce que c'est bien fait. On me l'a piqué d'une manière tellement ignoble. J'étais folle de rage, hat sie auch noch gesagt. Truffaut hat ihr die Rolle nie versprochen. Sie können in dem Post Waltz into Darkness (der auch gleichzeitig eine Einführung in die französische Herrenmode ist) alles dazu lesen.

Mit achtunddreißig hört sie mit der Schauspielerei auf. Marilyn Monroe ist keine achtunddreißig geworden, die war schon vorher tot. Selbstmordversuche hat es genügend in BBs Leben gegeben. Männer auch. Ich habe viel und leidenschaftlich geliebt. Das liegt in meiner Natur, hat sie einmal gesagt. Sie kam aus der französischen Bourgeoisie, jener Gesellschaftsschicht, die Claude Chabrol so gnadenlos seziert hat. Jetzt ist sie wieder in die Bourgeoisie zurückgekehrt. Sie ist mit einem Rechtsradikalen verheiratet, aber sie sagt, dass er nicht zur Front National gehört: Mon mari, il a le droit de penser ce qu'il veut. Il a le droit de faire ce qu'il veut. Je ne vais pas commencer à régenter ses opinions. Moi, j'ai les miennes qui sont pas du tout les mêmes que lui. Je suis de droite, ça on le sait. Je ne suis pas du Front national. Alors après on me traite de fasciste, de nazi, de chemise brune. Wenn Sie das sagt, dann wird das stimmen.

Das stand hier schon einmal, als ich ihr zum achtzigsten Geburtstag gratulierte. Ich habe es überarbeitet und alle verloren gegangen Links wieder hergestellt. Und Links zu allen Filme gemacht, damit Sie die anschauen können. Man muss nicht alle Filme von ihr sehen, den Film Wollen Sie mit mir tanzen? ganz bestimmt nicht. Wenn ich BB auch nie wirklich gemocht habe, ein Joyeux anniversaire schicke ich doch nach Saint-Tropez.

Freitag, 30. August 2024

Die Prinzessin von Sansibar

Heute vor hundertachtzig Jahren wurde Salama bint Said, die man auch Sayyida Salme nannte, geboren. Sie war eine Prinzessin von Oman und Sansibar. Sie war schon 2010 in diesem Blog, aber weil Sie mich damals vielleicht noch nicht kannten, stelle ich den Post an ihrem Geburtstag heute noch einmal ein. Mit vielen Veränderungen, denn ich habe jetzt auch einen einstündigen Dokumentarfilm mit dem Titel Die Prinzessin von Sansibar für Sie. Ich kenne die Geschichte der Prinzessin schon lange, weil sie im Leben von Gerhard Rohlfs, dem Namensgeber meines Gymnasiums, eine Rolle spielte. Es war eine Erzählung, die man nicht vergisst, die Geschichte von der schönen Prinzessin aus Sansibar, die den Hamburger Kaufmann Johann Heinrich Ruete liebt und mit ihm nach Deutschland flieht. Weil sie von einem Christen schwanger ist, dafür wird man in ihrer Welt noch gesteinigt. Könnte in dieser Welt heute wieder geschehen. M.M. Kaye, die mit The Far Pavillions (Palast der Winde) berühmt wurde, hatte die Geschichte der Sultanstochter schon in den Roman Trade Wind (Insel im Sturm) eingearbeitet, sie schreit ja auch geradezu danach, als Kitschroman recycelt zu werden.

Sayyida Salme war dieTochter des Sultans von Oman und Sansibar. Sie ist einem Sultanspalast aufgewachsen und hatte eine unbeschwerte Kindheit. Wie immer Sultanspaläste damals aussehen. Als ihr Vater stirbt, erbt sie viel; unter anderem einige Gewürznelkenplantagen, damit macht man auf Sansibar damals viel Geld. Zu ihrem Halbbruder, dem neuen Sultan, hat sie ein sehr gutes Verhältnis. Über die kleine Palastrevolution, in die sie verstrickt ist, wollen wir jetzt mal nicht reden. Der Hamburger Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete vertritt (bevor er sich mit Ruete & Co. selbständig macht) die Firma Hansing & Co.. Die sind neben der Firma O'Swald die einzigen Deutschen auf Sansibar. Sie haben eine Faktorei, sind Reeder und betreiben Bankgeschäfte. Die O'Swalds hießen ursprünglich Oswalds, aber das ist dem Begründer der Dynastie nicht englisch genug, er nennt sich statt Wilhelm Oswald William O'Swald. Ich habe einmal vor Jahrzehnten in einem Hamburger Antiquariat ein Buch mit der Signatur eines O'Swald gekauft, weil mir diese Hamburgische Anglomanie so wunderbar bescheuert vorkam. Ein Nachfolger von Ruete im Dienst von Hansing & Co namens Justus Strandes wird zu den Gründern von Deutsch-Ostafrika gehören.

Als Salme 1866 mit Heinrich Ruete flieht, ist Europa vom Orient begeistert. Ein Orientalismus, spätestens seit Napoleons Ägypten Abenteuer und den Bildern von Delacroix und Horace Vernet, macht sich überall breit. Verdi schreibt seine Aida, Flaubert Salambo (ein Lokal auf St. Pauli hieß später auch so). Ingres malt Harems und selbst in Deutschland gibt es Orientmaler wie Gustav Bauernfeind, von Malern wie Makart ganz zu schweigen. Das wäre jetzt die richtige schwül schwülstige Atmosphäre für die geflohene Prinzessin, so einen richtig schönen Kitschroman aus tausendundeiner Nacht zu schreiben. So irgendwas in der Art von Der Tiger von Eschnapur. Der Bestsellerstatus wäre vorprogrammiert. Emily Ruete wird später noch schreiben, aber →Die Memoiren einer arabischen Prinzessin sind nicht das, was man erwarten könnte.

Die eigenwillige Sultanstochter (auf allen Photos eine schöne und elegante Frau), die aus Liebe zu dem jungen Hamburger Kaufmann zum Christentum übertritt, wird sie glücklich werden in dem kalten Hamburg? Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber es kommt alles anders. Zuerst überlebt ihr erstes Kind die strapaziöse Reise nicht. Und dann stirbt ihr Mann, dem sie drei Kinder geboren hatte, im Jahre 1870. Er war von einer Pferdebahn in Uhlenhorst abgesprungen, gestolpert und unter die Bahn geraten. Starb eine Woche später, eins der ersten Opfer des öffentlichen Personennahverkehrs in Hamburg. 

Die Ruetes wohnten damals in Uhlenhorst (Schöne Aussicht 29), das ist immer noch eine feine Adresse in Hamburg. Den Emily Ruete Platz in Uhlenhorst hat man inzwischen wieder umbenannt, da die Prinzessin, deren Mutter Jilfidan eine tscherkessische Sklavin war, angeblich für Sklaverei und Prügelstrafe gestanden habe. Wir sind heute ja so moralisch mit dieser political correctness. Kurz nach ihrem Mann stirbt auch ihr Bruder, zu dem sie trotz der Flucht noch die besten Beziehungen hatte. Und da sitzt nun unsere arabische Prinzessin mit drei kleinen Kindern in Hamburg. In dieser Gesellschaft von bornierten Pfeffersäcken, die sie nicht akzeptiert. Vor allem nicht, wenn sie beginnt, geborene Prinzessin von Sansibar und Oman hinter ihren Namen zu setzen. Das mögen die stieseligen Hamburger ja gar nicht. Wenn man die Jugenderinnerungen von Ascan Klée Gobert (der Vater des Schauspielers Boy Gobert) liest, kann man einen schönen Eindruck von dieser Gesellschaft bekommen. Emily hat auch Verständigungsschwierigkeiten, das Hamburgische Missingsch versteht sie nicht, mit ihrem Mann konnte sie sich auf Kisuaheli unterhalten. Sie wird aber die deutsche Sprache eines Tages noch perfekt beherrschen.

Eigentlich möchte sie zurück nach Sansibar. Sie schreibt Briefe über Briefe (die eines Tages als Briefe nach der Heimat erscheinen werden) an die Verwandten, legt auch Photos der Kinder bei. Sie möchte auch an ihr Erbe kommen, das sie nach islamischem Recht eigentlich mit dem Übertritt zum Christentum verloren hat. Aber aus Verpflichtung zu ihrem Mann möchte sie auch, dass ihre Kinder eine gute deutsche Erziehung bekommen. Sie wird Hamburg 1872 verlassen, nach Dresden gehen. Dann nach Rudolstadt, Berlin, Köln und wieder Berlin. Der deutsche Adel füttert die arabische Prinzessin durch. 1875 beginnt sie zu schreiben, 1886 erscheinen Die Memoiren einer arabischen Prinzessin, die ein beachtlicher Publikumserfolg werden. Vier Auflagen in selben Jahr. Da erfahren ihre Kinder auch zum ersten Mal, dass ihre Mutter eine Prinzessin ist.

Zu dem Zeitpunkt ist sie schon eine Schachfigur in Bismarcks Afrikapolitik geworden. Als Bismarck den Afrikaforscher Gerhard Rohlfs (Bild) zum Generalkonsul von Sansibar ernennt (nachdem er zuvor mit ihm in Friedrichsruh Heringshäppchen gegessen hat), schlägt er ihm vor, dass er Frau Ruete auf einem deutschen Kriegsschiff nach Sansibar mitnimmt. Damit sie ihre Ansprüche in Sansibar geltend macht. Doch so wenig Fertigkeiten Rohlfs in der Kunst der Diplomatie hat, das scheint ihm doch ein wenig zuviel des Guten. Er wird Frau Ruete nicht auf dem Kriegsschiff mitnehmen und wird selbst einen großen Teil der Reise auf einem englischen Postdampfer machen (auf Madeira hatte er den deutschen Kreuzer verlassen).

Dadurch brüskiert er natürlich Berlin und die kaiserliche Marine. Er nimmt sich der Sache von Emily Ruete an, tritt dabei aber in alle Fettnäpfchen, die so herumstehen. Den deutschen Kreuzer Gneisenau vor der Küste Sansibars Artillerieübungen veranstalten zu lassen, ist vielleicht nicht der richtige Weg für diplomatische Verhandlungen. Obgleich das eigentlich im Sinne Bismarcks sein müsste, der in einer Notiz geschrieben hatte: Frau Ruete ist für uns lediglich ein Anlaß zu Forderungen dem Sultan gegenüber. Für ihr Schicksal und ihre beaux yeux können wir die Reichsinteressen nicht einsetzen. Nötigt uns der Sultan durch sein sonstiges Verhalten zu militärischer Gewalt, so ist die deutsche Bürgerin Ruete mit ihren Rechten ein nützliches Argument, um Gewalt zu rechtfertigen. In Berlin bereitet man schon eine militärische Invasion Sansibars vor und schickt den Admiral von Knorr mit Kriegsschiffen vorbei. Als die deutsche Bürgerin Ruete mit einem Lloyd Dampfer in Sansibar ankommt, liegen da schon Ihrer Majestät Schiffe Stosch (Bild), GneisenauElisabeth und Prinz Adalbert im Hafen.

Ich lasse jetzt mal alle diplomatischen Winkelzüge beiseite, letztlich wird aus dem Sansibarabenteuer nichts. Bismarck kneift vor den Engländern. Emily Ruetes Sansibarbesuch verläuft ergebnislos, ihr Bruder weigert sich, sie zu empfangen. Und Gerhard Rohlfs ist schon nach einem halben Jahr abberufen worden, da ist er ganz froh drüber, das ist nicht seine Welt. Die deutschen Faktoreien wie Hansing hatten sich beklagt, dass er ihre kolonialistischen Interessen nicht genügend vertrat. Stattdessen wollte der Idealist Rohlfs dem Sultan den Sklavenhandel verbieten. Da wird er sofort von Bismarck abgewatscht, Philantropismus liege außerhalb Ihrer Aufgaben und desgleichen die Beteiligung an der Anti-Sklaverei Politik der Engländer. Gerhard Rohlfs geht auch nicht auf die nötige feindliche Distanz zu dem englischen Generalkonsul, da er Sir John Kirk (der einst Livingstone begleitet hatte) von früher kennt und als Forscherkollegen schätzt. Überall auf der Welt stehen sich Deutsche und Engländer feindlich gegenüber, hier in Sansibar dinieren der deutsche und englische Generalkonsul wie Freunde miteinander.

Genau wie Kirk (hier im Bild) steht Rohlfs den Plänen von Dr Carl Peters (der den Beinamen Hänge-Peters bekommen wird) in Ostafrika negativ entgegen. Und ist auch naiv genug, das nach Berlin zu schreiben. So kann er sich nicht wundern, wenn er von seinen Berliner Feinden im schönsten Amtsdeutsch beschrieben wird als: Nicht von Haus aus Beamter und von daher mit jenem allen amtlichen Organisationsstrukturen gemäßen Schematismus nicht vertraut, der auch seiner Aufgabe zugrunde lag, nicht dazu zu bewegen, sich den Gepflogenheiten seines Amtes - und ebenso des Auswärtigen-Amtes - anzupassen, etwa die regelmäßige Berichterstattung strikt einzuhalten, kein geschulter Diplomat und damit innerhalb des exklusiven Diplomatischen Dienstes ein Fremdkörper. Klingt irgendwie sehr deutsch, dieses Todesurteil für idealistische Quereinsteiger, den Text könnte man bestimmt heute noch verwenden. Auch den Mediziner und weltberühmten Botaniker Sir John Kirk werden die Engländer im gleichen Jahr abberufen. Die Berliner Kongokonferenz hatte den Wettlauf um Afrika nur beschleunigt, jetzt werden in der Politik andere  Menschen als Botaniker oder Afrikaforscher gesucht. Zwar steht das Verbot des Sklavenhandels in dem schönen Papier, auf das man sich einigt, aber niemand wird sich dafür interessieren, was König Leopold im Kongo macht. Außer Mark Twain, der King Leopold's Soliloquy: A Defense of His Congo Rule schreibt.

Und obgleich sich Frau Ruete auch über ihn beklagt hat (sie beherrscht für die Durchsetzung ihrer Interessen ja alle Formen der Intrige, die Rohlfs fremd sind), wird Gerhard Rohlfs sich weiter für die Familie Ruete einsetzen. Besonders für ihren Sohn Rudolph (der noch ein deutscher Diplomat in Beirut wird), der für ihn eine Art Ersatzsohn ist. Er wird 1890, als Caprivis Sansibar Vertrag zwischen England und Deutschland perfekt ist, in der Kölnischen Zeitung einen langen Artikel schreiben, in dem er für ihre Ansprüche wirbt. Man sollte es kaum für möglich halten, daß einer deutschen Frau ein solches Unrecht geschehen konnte, schreibt er.

Und endet seinen Artikel mit den Worten: Aber noch ist es nicht zu spät, Deutschland hat die Verpflichtung, bei der Regelung der sansibarischen Geschäfte für die deutsche Frau Ruete einzutreten. Aus der Liebesgeschichte zweier junger Leute (Salme war zweiundzwanzig, Johann Heinrich Ruete siebenundzwanzig Jahre alt, als sie sich treffen) ist Weltpolitik geworden. Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet, Till Earth and Sky stand presently at God's great Judgment Seat, hatte Kipling gedichtet. Emily Ruete, die 1924 in Jena starb, liegt heute neben ihrem Mann auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg begraben.

Emily Ruetes Autobiographie ist vor Jahren von der deutschen Ethnologieprofessorin Annegret Nippa unter dem Titel Leben im Sultanspalast: Emily Ruete geb. Prinzesssin Salme von Oman und Sansibar: Memoiren aus dem 19. Jahrhundert herausgegeben worden, sie war vom Markt verschwunden, ist aber wieder erhältlich. Die englische Ausgabe Memoirs of an Arabian Princess from Zanzibar ist dagegen leicht erhältlich (eine Ausgabe von 1907 kann man hier lesen). Die ultimative, kommentierte Ausgabe ihrer Schriften (in englischer Sprache) ist An Arabian Princess Between Two Worlds: Memoirs, Letters Home, Sequels to the Memoirs, Syrian Customs and Usages  herausgegeben von dem holländischen Orientalisten Emeri Johannes van Donzel. Ist allerdings mit 390 € etwas teuer. Man kann jedoch den größten Teil der hervorragenden Einleitung (die auch die beste Skizze ihres Lebens enthält) bei Google Books lesen.

Die Briefe von Gerhard Rohlfs an die Familie Ruete liegen im Gerhard Rohlfs Archiv des Vegesacker Heimatmuseums im Schönebecker Schloss. Allerdings hat sich da seit den Tagen, da der Studienrat Dr Alwin Belger in den 1930er Jahren begonnen hatte, den gesamten Rohlfs Nachlass zu katalogisieren, editionsmäßig nicht so viel getan. Alwin Belger war der Lieblingslehrer meiner Mutter am Lyceum gewesen. Er hatte im Ersten Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger ein Bein verloren, und er ist in den letzten Kriegstagen 1945 zufällig durch eine englische Granate neben dem Hotel Bellevue getötet worden. Nur wenige Meter entfernt von unserem Heimatmuseum in der Weserstraße, in dem er die letzten Jahrzehnte mit der Aufarbeitung des Gerhard Rohlfs Nachlasses verbracht hatte. Da hat Dr Belger gearbeitet, pflegte mein Opa zu sagen, wenn wir sonntags das Heimatmuseum betraten. Und dieser kleine Raum, vollgestopft mit all den Gerhard Rohlfs Reliquien, ist in meiner Erinnerung immer mit Dr Belger verbunden gewesen, dessen Arbeiten über den berühmten Sohn unserer Stadt nie zu einem Abschluss gekommen sind. Ich finde es schön, dass die Erinnerung an Emily Ruete durch einen Gelehrten wie Emeri Johannes van Donzel wachgehalten wird. Warum schreibt nicht endlich einmal jemand ein wirklich gutes Buch über Gerhard Rohlfs? Seit ich an einer Schule, die seinen Namen trägt (und die Wikipädie mich unter bekannte Schüler dieser Lehranstalt auflistet), Abitur gemacht habe, verfolgt mich der Mann. Ich habe alles gelesen, was über ihn erschienen ist, aber bis auf einen schmalen, sehr guten Band eines DDR Autors namens Wolfgang Genschorek aus dem Jahre 1982 kann man das alles vergessen.

 

Montag, 26. August 2024

Menschenrechte

Heute vor 235 Jahren verabschiedete die französische Nationalversammlung die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen. Wenige Monate zuvor hatte der Marquis de Lafayette, der Held des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, in der Nationalversammlung schon den Entwurf einer Erklärung der Menschenrechte eingebracht. Bei der Formulierung hatte ihm Thomas Jefferson geholfen, der damals Amerikas Botschafter in Paris war. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde im Jahr 2003 zum Weltdokumentenerbe erklärt. 

Das alles wäre ein Grund zum Feiern, wenn man sich nicht fragen müsste, wo in der Welt heute diese Menschenrechte überhaupt gelten. Im Land des lupenreinen Demokraten bestimmt nicht. Da, wo es auf dieser Karte grün ist, da gelten sie schon. Aber das ist nicht einmal die Hälfte der Welt. Und auch in vielen Ländern, die hier grün sind, wird an den Rechten geknabbert. Die Menschenrechte sind für viele nur ein schöner Traum. Der Satz von Rousseau, Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten, gilt noch für einen großen Teil der Welt.

Die schönen Deklarationen der Freiheit des Menschen haben häufig elementare Mängel. Die amerikanische Declaration of Independence mit ihrem all men are created equal, die Jefferson auf der Basis der Gedanken von John Locke schrieb, galt offenbar nicht für Farbige. Die französische Déclaration vom 26. August 1789 galt nicht für Frauen. Zwei Jahre später wird →Olympe de Gouges eine Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin vorlegen. Sie hat auch, neben vielen anderen Publikationen, den Briefroman Denkschrift der Mme de Valmont geschrieben, den es jetzt in einer zweisprachigen Ausgabe gibt. Die Herausgeberin Gisela Thiele-Knobloch, eine Professorin für Romanistik, hat dazu gesagt: Historiker interessieren sich offenbar auch heute noch mehr für Anzahl und Eigenschaften der Liebhaber von de Gouges als für ihr umfangreiches Werk und ihre politische Leistung. Immer noch möchte man Olympe de Gouges in den althergebrachten Klischees lieber als 'Courtisane' und/oder als 'Militante' sehen, als sich ernsthaft mit ihren Schriften zu befassen. 

Man hatte Olympe de Gouge vergessen, aber in den letzten vierzig Jahren hat man das wiedergutgemacht, ihre →Schriften sind wieder aufgelegt worden, und es ist viel über sie geschrieben worden. La Femme a le droit de monter sur l’échafaud ; elle doit avoir également celui de monter à la Tribune, hatte sie in ihrer Déclaration geschrieben. Die Schreckensherrschaft wird dafür sorgen, dass dieser Satz wahr wird. Sie wird am 3. November 1793 auf der Place de la Concorde durch die Guillotine hingerichtet. So könnte es gewesen sein, aber das Bild ist nicht echt. Es ist eine Photomontage der Künstlerin →Holly Marie Armishaw.

Der Marquis de Lafayette, der die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen eingebracht hatte, schwört auf diesem Bild bei der Fête de la Fédération am 14. Juli 1790 seinen Eid auf das neue Frankreich. Aber den Eid wird er brechen, die Flucht ist ihm lieber als die Guillotine. Hier in Schleswig-Holstein ist er mit seinem Sohn George Washington (das ist der Junge mit der blauen Jacke auf dem Bild) auch einmal gewesen. Da hatte er mit dem Geld des Hamburger Kaufmanns John Parish das Gut Lehmkuhlen gemietet. Damals war auch der spätere Bürgerkönig Louis Philippe hier. Lebte unter dem Namen Ludwig Philippe de Vries in Friedrichstadt und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Tanzlehrer. 1790 war er ein begeisterter Anhänger der Revolution und Mitglied des Jakobinerklubs gewesen, jetzt ist er Tanzlehrer. Der General Charles-François Dumouriez, den er gut kannte, ist auch in Schleswig-Holstein. Der vermochte dem Exil etwas Positives abzugewinnen:

Das Exil hat, wie alle anderen Positionen im menschlichen Leben, seine Vorteile: Es präsentiert uns Vergleichsobjekte, von denen wir nie eine Ahnung hatten; er gibt uns Lichter; es entwickelt unsere Energie durch Entbehrung; es macht uns nachsichtig und gesellig; es schafft zwischen uns und unseren Gästen eine Erweiterung der Sensibilität und Wohltätigkeit. Der aufrichtige, weise und nachdenkliche Mann bringt von dieser erzwungenen Pilgerfahrt eine Reihe männlicher und sanfter Tugenden mit, die ihn tauglicher machen, seinem Heimatland zu dienen, und ihn zu einer universellen Philanthropie führen, die die schrecklichen Auswirkungen des nationalen Egoismus mildert.

Freitag, 19. Juli 2024

Ellen Andrée: nue et habilée

Der Maler Edgar Degas wurde heute vor hundertneunzig Jahren geboren, das wäre ein Grund, über ihn zu schreiben. Was ich aber nicht tun werde, weil ich ihn nicht mag. Weshalb ich ihn nicht mag, das steht in dem Post Edgar Degas. Und auch in dem Post Ratten sage ich nichts Nettes über ihn. Dieses Bild wird immer mit dem Titel L'Absinthe zitiert, original hieß es Dans un Café. Das grünliche Zeug, das die Dame vor sich hat, ist Absinth, ein Getränk, das Baudelaire in seinem Gedicht →Le vin des chiffonniers den Wein der Bettler, genannt hat. Die Dame trinkt in Wirklichkeit keinen Absinth, der Herr neben ihr wohl schon. Es ist der Maler Marcellin Gilbert Desboutin, der neben der Schauspielerin Hélène (oder mit ihrem Künstlernamen Ellen) Andrée sitzt. Die war über das Bild überhaupt nicht glücklich, fünfzig Jahre später hat sie gesagt: Je suis devant une absinthe. Desboutin devant un breuvage innocent, le monde renversé, quoi ! Et nous avons l’air de deux andouilles. Das ist es, die beiden sehen aus wie Idioten, eine Nutte und ein Penner. Soll das die Bohème sein oder nur die Demimonde?

Als Degas das Bild malte, war Ellen Andrée zwanzig Jahre alt. Sie war Schauspielerin, war aber auch das Modell für viele Maler. Sie hat für Degas, Manet und Renoir (und andere) Modell gesessen. Die Maler liebten sie, nicht weil sie besonders schön war, sondern weil sie lange in der Position sitzen oder stehen lonnte, die der Maler gerne haben wollte. Die Wikipedia hat eine schöne Seite für die Schauspielerin, mit vielen Bildern. Hier ist sie das Modell für Édouard Joseph Dantans Bild Un Moulage sur Nature. Das ist eins der wenigen Male, wo sie nackt posiert. Das zweite Bild mit der nackten Ellen habe ich natürlich auch, es war ein Bild, dass 1878 ein Pariser Skandal war.

Das Bild Rolla, das Henri Gervex gemalt hat, war schon zweimal in diesem Blog, einmal in Ratten und zum zweiten Mal in les grandes horizontales. Das Bild Rolla hat etwas mit einer Verserzählung von Alfred de Musset zu tun, in der der Lebemann und Wüstling Jacques Rolla gerade Sebstmord begehen will. Er hatte sich in die junge Marie (die hier auf dem Bett liegt), verliebt. Für die kleine Marie war die Prostitution eine Flucht aus der Armut. Ich zitiere einmal die passende Stelle und dann haben wir das Bild besser verstanden:
 
»Was mit mir ist?« sprach er – »beim Himmel, liebe Kleine,
Weißt du denn nicht, daß ich seit heute Nacht ruiniert?
Das weiß ja alle Welt! – Drum muß ich sterben gehen,
Und kam die Nacht hierher, noch einmal dich zu sehen.«
»Ja hast du denn gespielt?« – »O nein, ich bin ruinirt!«
»Ruiniert?« frug sie; und wie zur Statue gerührt,
Ließ sie den vollen Blick starr auf der Decke ruhn –
»Ruiniert? Ruiniert? Hast du denn keine Mutter? Hör!
Verwandte? Keinen Freund? Auf Erden niemand mehr?
Und tödten willst du dich? Weshalb willst du es thun?«
Vom weichen Kissen hob plötzlich das Haupt Marie,
Und süßer glomm ihr Blick als wie in allen Tagen.
Es bebte ihr der Mund im Drang von tausend Fragen,
Doch keine wurde laut – nur schluchzend neigte sie
Ihr Angesicht auf seins zu einem langen Kuß. –
»Jakob – zürnst du, wenn ich um etwas bitten muß?«
So schluchzte sie – »du weißt, Jakob – Geld hab ich nie –
Denn was du mir auch gabst, nahm mir die Mutter ab –
Jedoch – dies Halsband hier – 's ist Gold – soll ich's verkaufen?
Du nimmst das Geld und spielst – laß, Jakob – ich will laufen ....«
Ein mattes Lächeln war die Antwort, die er gab;
Drauf zog ein Fläschchen er hervor, trank's langsam leer,
Neigte sich über sie und küßte ihren Schmuck.
Dann sank auf ihre Brust sein Haupt mit leisem Druck –
Und als Marie es hob, da war es kalt und schwer.
Durch diesen keuschen Kuß ließ er die Seele scheiden,
Und, einen Augenblick, hatten geliebt die Beiden.

Der Salon hatte das Bild 1878 schon angenommen, aber kurz vor der Ausstellungseröffnung ließ der Direktor das Bild von der Wand nehmen. Weil es unmoralisch sei. Das Moralische ist ja bei der Aktmalerei immer ein Problem. Dass es hier gerade Sex gegeben hat, das ist uns klar. Den Spazierstock des Herrn, der zwischen ihrer Unterwäsche auftaucht, haben die Betrachter als Penissymbol verstanden: L'attitude d'abandon de cette nudité voluptueuse, à laquelle la chemise ouverte de l'homme fait écho, suggère, sans équivoque, l'ivresse sensuelle d'une nuit d'amour que conforte au premier plan, telle une nature morte, l'amoncellement de dessous féminins - corset rouge doublé de blanc, jarretière de soie rose et jupon empesé - dans lesquels s'enchevêtrent la canne et le chapeau haut de forme de l'amant, sagt Sophie Barthélémy, die Direktorin des Musée des Beaux-Arts de Bordeaux, dazu. 

Und Betrachter hat das Bild gehabt. Zwar nicht im Salon, aber für drei Monate im Schaufenster eines Kunsthändlers in der Rue de la Chaussée d’Antin. In einem Interview hat Gervex 1924 gesagt: Manet, Degas, Stevens, die Alten und die Jungen, alle drängten sich vor dem Gemälde, das schon berühmt war, bevor es den Salon betrat... Doch kaum hing es an der Wand, als Turquet, der Superintendent des Beaux-Arts, unterstützt von der Jury des Salons, den brutalen Befehl gab, es aus Gründen der Unmoral zu entfernen... So kam es, dass ein Kunsthändler mir anbot, 'Rolla' in seinem Geschäft in der Chaussée-d'Antin auszustellen... Ich nahm, wie Sie sich vorstellen können, dankbar an, und tatsächlich gab es drei Monate lang einen ununterbrochenen Besucherstrom mit einer Reihe von Kutschen, die sich bis zur Oper stauten. Eine von Gervex angefertigte Kopie des Bildes mit der nackten Ellen Andrée brachte bei Sothebys im Jahre 2016 den erstaunlichen Preis von 1,38 Millionen Pfund, der Schätzwert hatte bei 400.000 bis 600.000 Euro gelegen. Vielleicht kam dieser Preis zustande, weil es gerade im Musée d’Orsay die Ausstellung Splendeurs et misères: Images de la Prostitution, 1850-1910 gegeben hatte, in der das Original von Gervex auch zu sehen war. Dies Bild von Manet, das La Parisienne heißt, zeigt uns Ellen Andrée (die auch Gervex gerne als Modell nahm) vollständig bekleidet. Manet hat sie mehrfach gemalt, nie nackt.

Sophie Barthélémy sagte zu sensationellen öffentlichen Ausstellung des Bildes von Gervex, die zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führte: On venait y respirer le même parfum de scandale qui avait accompagné un an plus tôt la subversive 'Nana' de Manet. Das mit dem respirer le même parfum de scandale finde ich sehr schön ausgedrückt. Manets Nana besitzt die Hamburger Kunsthalle, 1973 stand das Bild im Zentrum der Ausstellung Nana – Mythos und Wirklichkeit. Das schöne Katalogbuch von DuMont kann man antiquarisch noch für wenige Euro finden. Auch so gut wie garnichts kostet das Buch Monet und Camille: Frauenportraits im Impressionismus, das ich schon in dem Post Camille in grün erwähnt habe. Noch mehr zu dem Thema findet sich in dem Buch Painted Love: Prostitution in French Art of the Impressionist Era von Hollis Clayson (hier im Volltext).

Ellen Andrée, hier von Degas gemalt, ist siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Sie hat alle Maler, die sie malten, überlebt. Der Skandal um das Bild Rolla begünstigte ihre Karriere als Theaterschauspielerin. Und zum Schluss habe ich in diesem Post, der es geschickt vermeidet, den spießigen Kleinbürger und virulenten Judenhasser Degas zu erwähnen, noch ein wunderbares Gedicht von Mascha Kaléko, das zu dem Bild von Gervex passt. Er heißt Der nächste Morgen: 

Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich
Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.
Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:
Es klang nicht schön. Mir schien es jetzt erklärlich,
Dass Eheleute nicht in Liebe glühn.
Ich lag im Bett. Du blicktest in den Spiegel,
Vertieftest ins Rasieren dich diskret.
Du griffst nach Bürste und Pomadentiegel.
Ich sah dich schweigend an. Du trugst das Siegel
Des Ehemanns, wie er im Buche steht.

Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!
Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauss,
Die Gläser, die wir gestern abend leerten,
Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.
... Das alles sieht am Morgen anders aus.
Beim Frühstück schwiegst du. 
(Widmend dich den Schrippen.)
Das ist hygienisch, aber nicht sehr schön.
Ich sah das Fruchtgelée auf deinen Lippen
Und sah dich Butterbrot in Kaffee stippen –
Und sowas kann ich auf den Tod nicht sehn!

Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine.
Es roch nach längst getrunkenem Kaffee.
Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.
Mir ahnte viel –. Doch sagt ich nur das Eine:
"Nun ist es aber höchste Zeit! Ich geh..."
 

Donnerstag, 4. Juli 2024

la dame au coussin rouge

Der französische Maler Charles Auguste Émile Durand, der allgemein Carolus-Duran genannt wird, wurde am 4. Juli 1837 in Lille geboren. Er hatte sich auf die Portraitmalerei spezialisiert. Dies Bild hier ist kein Selbstportrait, es ist von einem seiner Schüler. Nicht von irgendeinem seiner vielen Schüler, es ist von seinem berühmtesten Schüler, dem Amerikaner John Singer Sargent. Der hier mit blaue Vasen einen schönen Post hat, sein Biograph Stanley Olson hat auch schon einen Post. Was wir auf diesem Bild nicht richtig sehen können, ist die Widmung to my dear master Mr Carolus-Duran, his affectionate student John S. Sargent 1879, die Sargent oben rechts in das Bild geschrieben hat. Dass sein Lehrer gerade die Ehrenlegion bekommen hat, das hat Sargent auch nicht vergessen, das ist der kleine rote Fleck im Knopfloch vom Revers.

Carolus-Duran ist im Gegensatz zu seinem Schüler nicht unbedingt der Maler für die ganz große Welt, er will die Dargestellten nicht schöner machen, als sie sind. Schliesslich ist er Realist. Wenn Damen ganz wunderschön sein wollen, dann gehen sie zu Franz-Xaver Winterhalter. Diese junge Dame, die sich Alice de Lancey nennt, geht zu Carolus-Duran. Sie heisst nicht Alice de Lancey, und sie ist auch keine Comtesse. Sie war eine Julia Tahl aus Baltimore. Heiratete  einen Mr Eardley-Wilmot, mit dem sie (und mit großer Dienerschaft, wie die Passagierliste des Dampfers verrät) nach London zieht. Die Ehe war aber schnell wieder geschieden. Aber wenn man mit fünfundzwanzig Paris erobern will, wird ja wohl eine kleine Namensänderung erlaubt sein. Das Ergebnis der Sitzungen beim Maler war 1877 im Pariser Salon zu sehen, da war sie la dame au coussin rouge. Es ist eine detailverliebte Malerei, von der Blume im Haar bis zu den goldenen Absätzen der Schuhe. Das Bild ist sicher für die Damenmode der Zeit sehr interessant, sonst für wenig.

Kunsthistoriker haben auf die Nähe des Bildes zu dem Bild hingewiesen, das François Boucher 1743 von seiner Ehefrau gemalt hat. Man kann da einige Übereinstimmungen finden, zum Beispiel bei den Schuhen, aber es ist doch ein ganz anderes Bild. Boucher malt seine Ehefrau (die auch vor der Ehe sein Modell war), Carolus-Duran malt eine Dame von zweifelhaftem Ruf. Als er sie malt, ist sie gerade die Maitresse des Barons Antoine d'Ezpeleta, den er auch malen wird. Er malt auch den Hund der Dame, der Chinois heißt (steht so auf dem Bild). Wenige Jahre später wird unsere Alice eine Affäre mit dem Bankier Nissim De Camondo haben, den sie durch den Pressezaren Arthur Meyer kennengelernt hatte. Die Liaison ist ebenso wie das Bild von 1877 ein Pariser Skandal. Alice hatte sich, von welchem Geld auch immer, einen kleinen Landsitz in Louveciennes gekauft, der einstmals Madame du Barry gehörte. Edmond de Goncourt schrieb dazu gehässig: l'intérieur ironique de Louveciennes, où vécut Mme du Barry et où vit aujourd'hui Mme de Lancey et où le banquier Camondo remplace Louis XV. 

Wenn wir beim ersten Betrachten des Bildes den Eindruck hatten, dass das alles ein wenig ordinär und nuttig ist, dann hatten wir recht. Lesen Sie mehr zu den Damen im Paris des 19. Jahrhunderts in les grandes horizontales und Demimonde. Das 1,57 x 2,11 Meter große Bild hängt heute im Petit Palais, Alice de Lancey hatte es in ihrem Testament 1913 dem Museum vermacht. Ich weiß immer noch nicht, ob sie wirklich so gemalt werden wollte, wie Carolus-Duran das getan hat. Kritiker sagten über das Bild, dass es einen Höhepunkt der Geschmacklosigkeit darstelle. Carolus-Duran kann ja Frauen auch anders malen, wie hier Léocadie Bogaslawa Zelewska, die Gattin des Journalisten Henry Fouquier. Sie war eine der schönsten Frauen von Paris, Carolus-Duran hat sie mehrfach portraitiert. Vielleicht wollte der Maler mit dem Bild der Mademoiselle de Lancey auch so einen kleinen netten Skandal haben, weil so etwas gut für das Geschäft ist. 

Das war bei seinem Schüler John Singer Sargent nicht anders, sein Skandal mit dem Bild der Madame X war noch einige Dimensonen größer. Sargent und sein schwedischer Kollege Anders Zorn müssen die Millionärgattinnen des Gilded Age und des französischen Kaiserreichs malen, das ist ihr Geschäft. All diese Damen, die in den Posts Orchideen und dem Post Une fillette d’un blond roux erscheinen, wollten ja mal von Gesellschaftsmalern gemalt werden. Anders Zorn lässt sich einen roten Anzug schneidern und kauft sich einen Rolls-Royce. Und malt, zuück im Schweden, pralle nackte Schwedinnen beim Mittsommerfest. Carolus-Duran malt auch Frauen, die wir nicht kennen, wie diese rothaarige Dame hier. Ebenso wie das Bild la dame au coussin rouge und das Bild von der polnischen Gattin Fouquiers, ist es 1876 entstanden. Aber es lebt heute noch. Das Zuckerpüppchen mit dem coussin rouge wirkt dagegen ziemlich leblos.