Die Schriftstellerin Irina Liebmann wird heute achtzig Jahre alt, dazu möchte ich ganz herzlich gratulieren. Dass ich ihre Bücher kenne, verdanke ich dem Zufall. Ich fand Letzten Sommer in Deutschland: Eine romantische Reise an einem schönen Sommertag in dem Grabbelkasten, der vor dem Antiquariat stand. Sowas gab es ja früher, auch massenhaft Grabbelkästen vor den Plattenläden. Ist alles weg, die Antiquariate und die Plattenläden. Läuft jetzt alles über ebay. Wir haben da etwas verloren. Ich hatte noch nie etwas von Irina Liebmann gehört, aber ich begann auf der Straße zu lesen. Und merkte, dass ich hier etwas ganz Besonderes in der Hand hatte. Ein sentimental journey durch Deutschland, Ost und West, wechselnd zwischen Prosa und prose poem. Von der Wasserwelt in Lebus bis zum Rhein, hoch poetisch und hoch komisch. Ein Buch, das uns unsere hässliche Wirklichkeit vergessen lassen kann - obgleich die immer auch im Buch ist.
Irina Liebmann hat als Journalistin begonnen und ist Schriftstellerin geworden. Viele Schriftsteller haben als Journalisten begonnen, Fontane und Hemingway, Rudyard Kipling, Joseph Roth und Kurt Tucholsky. Man kann die Liste beliebig verlängern. Der Journalismus kann eine gute Schreibschule sein, aus der man seinen eigenen Stil entwickelt. Und den eigenen Stil hat Irina Liebmann gefunden, eine nichtfiktionale Prosa, die immer von Poesie durchzogen ist. Da hat sie manches mit dem non-fiction novel Stil von Joan Didion gemein.
Irina Liebmann ist mit zwei Muttersprachen aufgewachsen, Deutsch und Russisch. Später hat sie noch Chinesisch gelernt. Sie wurde in Moskau geboren, weil ihr Vater Rudolf Herrnstadt nach Russland emigriert war. Er wurde nach dem Krieg Chefredakteur der Zeitung Neues Deutschland, fiel aber bald beim System in Ungnade. Forderte den Rücktritt Ulbrichts, und wurde für den Aufstand von 17. Juni 1953 mitverantwortlich gemacht. Die Revolution frisst immer ihre eigenen Kinder. Liebmann hat ein Buch über ihren Vater geschrieben, über einen Mann, der Jude, Spion und Kommunist war. Mein Vater ist verleumdet und verschwiegen worden, jeder hat ihn für seine eigenen Angelegenheiten benutzt wie einen Steinbruch – das war so, solange die Mauer stand, und nach dem Mauerfall ging es genauso weiter. Heute ein großes, freundliches Portrait eines Kandidaten des Politbüros der SED zu veröffentlichen, so was ist doch nicht so easy! hat sie in einem Interview gesagt.
Sie musste dieses Buch Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt schreiben, so wie Barbara Honigmann über ihren Vater das Buch Georg schreiben musste. Irina Liebmann hat für die Lebensgeschichte ihres Vaters 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Gleichzeitig erschien das Buch in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Barbara Honigmann, deren Mutter einmal die Ehefrau von Kim Philby war, hat für das Buch über ihren Vater 2020 den Literaturpreis der Stadt Bremen erhalten. Vielleicht sollte man diese beiden jüdisch-deutschen Erinnerungen parallel lesen.
Der schriftstellerischen Erfassung des Herzens der Großstadt vorangegangen war ein Photoband der Autorin, der Stille Mitte von Berlin heißt, eine photografische Recherche auf Orwo Color rund um den Hackeschen Markt. Es war ein Projekt, das als Gedächtnisstütze gemeint war. Es wurde ein Photoessay, der zeigt, dass Straßen Geschichten erzählen und Geschichte erfahrbar machen: Nur in der Gegend zwischen nördlicher Friedrichstraße und Alexanderplatz stand damals noch ein echtes Stück von der alten Innenstadt. Es war keine Touristengegend wie heute - eher eine Rumpelkammer mit Möbelstücken der Weltstadt Berlin. Ein ganzes großes Wohnzimmer verwitterte da und verstaubte. Für uns war es der Alltag. Wir liebten die Gegend. Wir wussten, dass es ein sehr altes Stück von Berlin war und dass hier immer die arme Seite der Stadt gewesen war. Über die Häuser selber, ihre Erbauer, ihre Bewohner, wussten wir kaum etwas. Einige allerdings waren mit Gedenktafeln versehen oder sprachen für sich selber: das katholische Krankenhaus, die protestantische Sophienkirche und der älteste jüdische Friedhof Berlins. Zu dem Friedhof hatte ein Altersheim gehört, ein Denkmal erinnerte daran, dass sich hier eine Sammelstelle zum Transport jüdischer Berliner in die Vernichtungslager befunden hatte. Alles stand so da, wie es stehen geblieben war, 1945, 1950. Aber überall ragten Reste von etwas aus den Wänden - jedes Teil wie das Ende einer Wurzel, deren Pflanze man nicht kennen konnte.
Wenn ich auf der Straße vor einem Grabbelkasten zu lesen anfange, dann ist das ein Zeichen für ein gutes Buch. Und Letzten Sommer in Deutschland: Eine romantische Reise ist ein gutes, ein sehr gutes Buch. Ich ging in den Laden und legte der netten Blondine drei Euro auf den Kassentisch. Man kann die Bücher von Irina Liebmann antiquarisch preiswert bekommen. Auch Die große Hamburger Straße, für die ich noch viel Geld bezahlt habe, als das Buch erschien, ist im Preis gesunken. Wenn ich damals die Autorin nicht kannte, heißt das nicht, das sie unbekannt ist. Sie hat viele Literaturpreise bekommen. Sie könnten hier die Laudatio von Dagmar Leupold zum Literaturpreis Von Autoren für Autoren in Lübeck lesen, die sich auch auf der schönen Homepage von Irina Liebmann findet. Was in meinem Geburtstagsgruß für die Autorin steht, ist auch eine Leseempfehlung für Sie. Ein Buch möchte ich noch empfehlen, es heißt Drei Schritte nach Russland. Es ist eine liebevolle Erinnerung an ihre russische Mutter Valentina, die schöne schlanke Frau mit der Wespentaille und der Lauren Bacall Frisur. Es ist auch ein Versuch, sich in dem heutigen Russland zurechtzufinden. Ich zitiere mal die erste Seite:
"Bei denen ist es natürlich noch schlechter".
Es hatte so zu sein, daß es ihnen schlechter ging als uns, daran hatten wir uns gewöhnt. Wir haben nie wirklich nach ihnen gefragt.
Wir blickten nach Westen, und jetzt?
Was Westen war, hat seine Leuchtkraft verloren.
Aber angenehm ist es im Westen noch. Ich sitze in einer großen Wohnung, seit acht Wochen ist Winter mit Schnee und Eis wie niemals zuvor, aber die Läden sind voll, die Heizung warm, nur die Zahlen auf meinem Bankkonto muß ich im Auge behalten, diese Zahlen sind der Kilometerzähler meines Lebens geworden, und nicht meines alleine, denn schon sitzen alle Regierungen Tag und Nacht zusammen und reden über nichts anderes als die Zahlen auf ihren eigenen Kilometerzählern, wir können abstürzen, rufen sie, abstürzen, ins Meer fallen, in ein Meer der wertlosen Scheine, die kein Konto wahrnehmen wird, keinen Meter wird es mehr anzeigen als zuvor, keine Zahl dafür in die Höhe treiben, wir fallen, wir fallen – und die da, die Russen? Die sehen zu.
Sollen wir zu ihnen blicken? In ihre Richtung?
Was ist denn dort? Was?
Und was waren das für Jahre, die letzten zwanzig? Was war das für ein Glanz, dem wir nachliefen? War es überhaupt Licht?
Zum Weiterlesen müssten Sie das Buch kaufen. Lohnt sich unbedingt.