Mittwoch, 22. Juli 2020

Girlie Show


Edward Hopper hat heute Geburtstag, der kam im Poetry Month April hier schon häufiger vor, aber es kann eigentlich gar nicht genug von Hopper geben. Ich habe hier ein schönes Bild aus dem Jahre 1941 von ihm, das Girlie Show heißt. Die Stripperin ist, wie beinahe alle Frauen auf Hoppers Bildern, seine Ehefrau Jo. Ich habe zu dem Gedicht ein kleines Gedicht, das A Nude by Edward Hopper heißt. Es ist von Lisel Mueller, einer Autorin, die in Deutschland nicht sehr bekannt geworden ist. Obgleich es mit Brief vom Ende der Welt: Ausgewählte Gedichte seit dem Jahre 2006 eine zweisprachige Gedichtsammlung gibt.

Die 1924 in Hamburg geborene Deutschamerikanerin ist in diesem Jahr in dem gesegneten Alter von sechsundneunzig Jahren gestorben. Sie war 1939 mit ihrer Familie nach Amerika emigriert und ist dort in den sechziger Jahren als Dichterin berühmt geworden. Nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sie begonnen, Gedichte zu schreiben. Das hat sie in dem Gedicht When I am Asked gesagt. 1992 hat sie in dem Gedicht Curriculum Vitae ihr Leben beschrieben:

1) I was born in a Free City, near the North Sea.

2) In the year of my birth, money was shredded into
confetti. A loaf of bread cost a million marks. Of
course I do not remember this.

3) Parents and grandparents hovered around me. The
world I lived in had a soft voice and no claws.

4) A cornucopia filled with treats took me into a building
with bells. A wide-bosomed teacher took me in.

5) At home the bookshelves connected heaven and earth.

6) On Sundays the city child waded through pinecones
and primrose marshes, a short train ride away.

7) My country was struck by history more deadly than
earthquakes or hurricanes.

8) My father was busy eluding the monsters. My mother
told me the walls had ears. I learned the burden of secrets.

9) I moved into the too bright days, the too dark nights
of adolescence.

10) Two parents, two daughters, we followed the sun
and the moon across the ocean. My grandparents stayed
behind in darkness.

11) In the new language everyone spoke too fast. Eventually
I caught up with them.

12) When I met you, the new language became the language
of love.

13) The death of the mother hurt the daughter into poetry.
The daughter became a mother of daughters.

14) Ordinary life: the plenty and thick of it. Knots tying
threads to everywhere. The past pushed away, the future left
unimagined for the sake of the glorious, difficult, passionate
present.

15) Years and years of this.

16) The children no longer children. An old man's pain, an
old man's loneliness.

17) And then my father too disappeared.

18) I tried to go home again. I stood at the door to my
childhood, but it was closed to the public.

19) One day, on a crowded elevator, everyone's face was younger
than mine.

20) So far, so good. The brilliant days and nights are
breathless in their hurry. We follow, you and I. 


Sie ist die einzige in Deutschland geborene Schriftstellerin, die den Pulitzer Preis für Dichtung bekommen hat. Die Mitteilung erhielt sie 1997 per Telegramm, der Text wurde ihr von einem Angestellten der Western Union am Telephon vorgelesen, der dem You were awarded the Pulitzer poetry prize today. Congratulations noch von sich aus hinzufügte: It’s nice to deliver good news for a change. Einen National Book Award hat sie auch bekommen, und im letzten Jahr auch das Bundesverdienstkreuz. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie das Schreiben aufgegeben The language no longer flows, hat sie gesagt. Aber in dem Gedicht A Nude by Edward Hopper fliesst die Sprache noch.

A Nude by Edward Hopper

The light
drains me of what I might be,
a man’s dream
of heat and softness;
or a painter’s
—breasts cozy pigeons,
arms gently curved
by a temperate noon.

I am
blue veins, a scar,
a patch of lavender cells,
used thighs and shoulders;
my calves
are as scant as my cheeks,
my hips won’t plump
small, shimmering pillows:

but this body
is home, my childhood
is buried here, my sleep
rises and sets inside,
desire
crested and wore itself then
between these bones—
I live here.

Wenn wir dem glauben, was sie in dem Gedicht Muse sagt, dann blickt sie beim Schreiben auf Hoppers Bild NighthawksWhat I look at when I type is a poster: Edward Hopper's Nighthawks. It is there to keep me honest. Gail Levins hat in ihrem Buch The Poetry of Solitude: A Tribute to Edward Hopper Muellers A Nude by Edward Hopper abgedruckt, aber auch noch ein zweites Gedicht von Lisel Mueller aufgenommen, das American Literature heißt und neben dem Bild Sun in an Empty Room steht:

Poets and storytellers
move into the vacancies
Edward Hopper left them.
They settle down in blank spaces,
where the light has been scoured and bleached
skull-white, and nothing grows
except absence. Where something is missing,
the man a woman waits for,

or furniture in a room
stripped like a hospital bed
after the patient has died.
Such bereft interiors
are just what they’ve been looking for,
the writers, who come with their baggage
of dowsing rods and dog-eared books,
their uneasy family photographs,
their lumpy beds, their predilection
for starting fires in empty rooms.



Noch mehr Edward Hopper in den Posts: Edward HopperEinsamkeitythlafJo Hopper (und Eddie)The cure for loneliness is solitudeHopper is saying, I am VermeerHoppers Welt der Einsamkeit

Sonntag, 12. Juli 2020

Charles Chaplin


In dem Pariser Auktionshaus staunte man am 5. Juni 1922 nicht schlecht, dass bei der Auktion auf das Landschaftsbild eines längst vergessenen Malers derartig hohe Gebote abgegeben wurden. Der Höchstbietende wird auch nicht schlecht gestaunt haben, als ihm das Bild zugeschlagen wurde. Er hatte darauf spekuliert, dass das Bild ein unbekanntes Werk des Filmschauspielers Charlie Chaplin war. Das war der New York Times die kleine Schlagzeile Bid High for Chaplin Picture, But it Wasn't by Charlie wert. Der Maler hieß Charles Joshua Chaplin, nicht Charles Spencer Chaplin.

Ein halbes Jahrhundert vor der Auktion war der Maler, der am 30. Januar 1891 starb, ein berühmter Mann gewesen, der Lieblingskünstler der Kaiserin Eugénie. Er hatte die Landschaftsmalerei aufgegeben und malte nun Bilder wie dieses, spärlich bekleidete Frauen, die ein wenig nach der Malerei des Rokoko aussahen. Akademische Erotik für das Boudoir des Zweiten Kaiserreichs. Ich hätte den Maler, der am 30. Januar 1891 starb, in den Posts Demimonde und les grandes horizontales erwähnen können, habe es aber gelassen, weil ich dachte, dass ich ihn noch einmal für einen anderen Post gebrauchen könnte.

Mit seinem ersten Portrait, von dem wir leider nur diesen Heliogravüre von Adolphe Pierre Riffaut haben, begibt sich der junge Charles Chaplin in die Welt der Demimonde. Der Graf Pierre de Castellane, der später Bücher über seine Zeit als Offizier in Algerien schreiben wird, möchte gerne seine Geliebte portraitiert haben. 250 Francs will er dafür bezahlen, ein Auftrag, den der Maler gerne annimmt. Er bringt, als er bei der Dame am Boulevard de la Madeleine Nummer 11 vorspricht, zwei Bilder von Frauen mit, die einzigen Frauen, die er bisher gemalt hat. Es sind zwei Madonnen, die er im Louvre kopiert hat. Die junge Frau, gerade dem Bett entstiegen und noch im Déshabillé, bricht in ein Gelächter aus. Man hat sie schon alles mögliche genannt, aber eine Madonna ist sie wahrlich nicht.

Nach der ersten Sitzung hat sie ihn in ihrer Kutsche mitgenommen in den Bois de Boulogne, plötzlich waren die beiden von Menschenmassen umringt. Da merkte er, dass sein Modell Marie Duplessis berühmt sein musste. Maler und Modell waren gleich alt, sie freunden sich an, die Klatschpresse ist voller Gerüchte über die Duplessis und einen jungen unbekannten Maler. Drei Monate später ist sie schon tot. Aber sie wird bis heute weiterleben. In der Literatur, da ist sie dann Marguerite Gautier in Dumas' La dame aux camélias, in der Oper, da ist sie Violetta Valéry in La Traviata. Dumas hat immer behauptet, dass er das Motiv der Kamelien erfunden hätte, aber sie liebte diese Blumen wirklich. Die Forschung hat ihre Blumenrechnungen aufgetrieben: immer wieder Kamelien, weiße und rote. Auf diesem Bild von Camille Roqueplan ist Marie Duplessis bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt im Theater zu sehen. Ohne Blumenschmuck. Sie war schon schwach, ihre Diener hatten sie in die Loge tragen müssen.

Charles Chaplin soll drei Stunden nach ihrem Tod noch eine Zeichnung von Marie Duplessis gemacht haben, aber man weiß nicht, ob das Bild wirklich echt ist. Dieses Bild von Chaplin zeigt nicht die berühmte Courtisane, es heißt Après le Bal masqué, nach dem Maskenball. Erschöpft vom Tanz hat sich eine junge Dame entkleidet und liegt ausgebreitet vor uns, viel mehr an Erotik geht in dieser Zeit nicht.

Das Bild von Marie Duplessis war sein erstes Portrait einer Frau, von nun an wird er nichts anderes mehr malen. Nicht mehr die Landschaft der Auvergne, die er so liebte. Er verabschiedet sich von Realismus und Naturalismus und malt nur noch Frauen, die ein wenig nach François Boucher aussehen. Manchmal auch ein wenig nach Gainsborough, den er sorgfältig studiert hat. Er richtet auch eine Malerschule ein. Natürlich für Frauen. Zu seinen Schülerinnen zählen Eva Gonzalès (die schon in dem Post Kindermädchen erwähnt wird), Mary Cassatt und Louise Abbéma. Er ist heute nicht ganz vergessen, der Markt ist voll mit Reproduktionen seiner Werke, und ein echtes Damenportrait von ihm kann schon mal 42.000 Dollar kosten. Il sait le sourire d’une femme et c’est très rare, hat Manet über ihn gesagt, das ist ein schöner Satz: das Lächeln der Frauen verstehen.