In den sechziger Jahren gibt es in beinahe allen norddeutschen Großstädten eine Musikszene, Hamburg hat die Riverkasematten und den Star Club. Und eines Tages hat der NDR ➱Klaus Wellershaus, den Erfinder der Rockmusik im Radio, wie Heinz Rudolf Kunze ihn in einer ➱Würdigung genannt hat. Sein Nachfolger Peter Urban wird nie an ihn heranreichen, was vielleicht auch daran liegt, dass es später nie wieder so gute Musik gab. Bremen hat die Lila Eule und Radio Bremen mit dem Beat Club und dem Musikladen, darüber habe ich ➱hier schon geschrieben. Und selbst in Schläfrig-Holstein gibt es in Kiel eine ➱Musikszene, von der Folk Szene wie den ➱Beda Folks ganz zu schweigen.
Ich schlage für Gershwins Summertime mal eben eine Seite meiner Bremensien auf, eine Seite aus einem Kapitel, das Moments Musicaux heißt. In dem es um die Klavierstunde, Jazz und Rock'n Roll geht. Natürlich auch um klassische Musik, aber klassische Musik ist damals für Jugendliche nicht so interessant, wenn man im amerikanisch besetzten Bremen jeden Tag AFN und BFBS im Radio hören kann.
Musikunterricht in der Volksschule ist schrecklich. Ständig läuft man Gefahr, nach vorne gerufen zu werden und vorsingen zu müssen. Da kommt man sich vor wie der kleine Charbovari im ersten Kapitel von Madame Bovary. Ich singe leidenschaftlich gern, bin auch immer der einzige, der alle Texte, alle Strophen kann. Aber ich kann nicht singen. Wird auch nach dem Stimmbruch nicht besser. Im Klassenchor stellt man mich in die letzte Reihe. Annegret, der Schwarm aller Zwölfjährigen, kann singen, der Lehrer holt sie immer nach vorne, damit sie uns ein Beispiel gibt. Sie singt You are my sunshine, immer wieder, das ist ihr Paradestück. Eigentlich ist es das Lied, das wir in unseren Köpfen für sie singen: You’ll never know dear, how much I love you. Please, don’t take my sunshine away. Annegret hat einen Herzfehler, und ihre Lippen laufen bläulich an. Ihre Eltern sparen für eine Herzoperation, irgendwo in Deutschland soll es einen Spezialisten geben. Man wird ihn Jahre später finden, alles wird gut. Sie lebt heute in Kalifornien. In meiner Vorstellung bleibt sie die blonde Zwölfjährige mit dem Pagenkopf, die herzzereißend You are my sunshine singt.
Die Mädchen, die wirklich gut singen können, singen in Chören, manche von ihnen noch heute. Aus reiner Liebe zu manchen Frauen geht man zu ihren Konzerten, denn nichts anderes könnte mich dazu bringen, mir im Bremer Dom zwei Stunden lang Bachkantaten anzuhören. Meine ➱Freundin Gu singt nicht, die spielt Violine. Also werde ich zum Groupie des Schulorchesters, in dem sie spielt, ich sitze bei Proben in der letzten Reihe und bewache die Garderobe. Einmal sogar in den heiligen Hallen des Bremer Rathauses, cool hingelümmelt mit meiner Lederjacke ganz hinten im Saal, die Füße auf der Sitzreihe vor mir. Violinkonzerte sind fetziger als hingebungsvoll gesungene Bachkantaten. Ich kann immer noch jedes Violinkonzert mitpfeifen.
Manche der jungen Frauen, die gut singen können, wandern anfangs der sechziger Jahre in die ersten in Norddeutschland entstehenden Jazzbands ab; singen da heimlich, ohne dass ihre Eltern das wissen, Vorläuferinnen von Ingeburg Thomsen, die ich einmal erlebt habe. Die blonde Ute hätte so was tun können, sie ist eine coole, gut aussehende Blondine. Nicht mein Typ, aber ich musste sie zu dem Oberstufenball begleiten. Mein Vater hat mir das aufgetragen, Ute ist die Tochter eines seiner Kollegen. Als der Ball in der Strandlust zu Ende geht, gehen wir noch in die Bar im Keller, wo man aus den Bullaugenfenstern auf die Weser bei Nacht blicken kann. Aber da hockt nur die Säuferclique des Werftbesitzers. Manche von denen sollen eine Flasche Asbach Uralt pro Tag trinken. Dies ist eine Kleinstadt, man kennt sich, es wird viel geredet. Man weiß noch, wer die Nazis waren.
Wir beschließen, das Weite zu suchen, als die Säufer Ausziehen, ausziehen grölen. Ute geht zum Klavier, flüstert dem Pianisten etwas zu. Und dann zieht sie aufreizend langsam ihren weißen Regenmantel aus. Ich weiß nicht, was sie vorhat. In der Bar mit den Bullaugenfenstern ist es plötzlich ganz still. Ute wirft ihren Regenmantel auf den Flügel, stützt sich mit einer Hand auf und singt: Summertime and the living is easy, fish are jumping, and the cotton is high. Das ist schon etwas anderes als Die Liebe ist ein seltsames Spiel von Connie Francis, das jetzt überall aus dem Radio plärrt. Der Werftbesitzer und seine Säuferclique sitzen sprachlos mit offenen Mündern da. Dann nimmt Ute mit einer lässigen Bewegung ihren Mantel und rauscht an der crème de la crème der Vegesacker Gesellschaft vorbei. Es gibt keinen Beifall, aber auch keine cat calls. Ich folge ihr und spendiere der Herrenrunde meinen besten John Wayne-Blick. Einer guckt etwas betreten. Ist es ihm plötzlich klar geworden, dass dies seine Tochter Annegret hätte sein können, die so schön You are my sunshine sang? Dem filmreifen Auftritt folgt ein denouément, der letzte Bus ist weg. Ich muss Ute fünf Kilometer durch die Nacht begleiten. Was mir (einschließlich der fünf Kilometer zurück) nicht so schwer fällt, aber ihr: neue high heels, schwarzlackiert, eine Nummer zu groß. Ich gebe ihr meine beiden weißen Taschentücher (junge Dandies haben damals immer zwei saubere weiße Taschentücher dabei) für die Hacken, so muss es gehen. Ute ist keine Jazzsängerin geworden, obgleich sie das Zeug dazu gehabt hätte, wir sind zu sehr Teil dieser großbürgerlich-kleinbürgerlichen Welt von Bremen-Nord, als dass wir aus ihr ausbrechen würden.
Mir bleibt eine lebenslange Bewunderung für Frauen, die mit Bass und Klavier im Hintergrund ein Mikrophon in die Hand nehmen. Oder gegen ein großes Orchester gegenan singen. Wie Ottilie Patterson, die ich mit Chris Barber auf einer Platte habe. Nicht jeder von uns hat die Chance wie Frank O’Hara, Lady Day im Five Spot zu hören while she whispered a song along the keyboard/to Mel Waldron and everyone and I stopped breathing. Inzwischen gibt es keine Platten mehr, nur noch CDs. Die kann man zu kleinen Türmen stapeln. Mein Stapel von Jazz Singers erreicht schon die Höhe einer Sängerin, und überall in den Clubs tauchen immer wieder Blondinen im kleinen Schwarzen auf, vielversprechende Talente. Irgendwie scheint das die einzige Spezies auf der Welt zu sein, über deren Fortbestand man sich keine Sorgen machen muss.
Nicht aus allen wird etwas. Die Karriere von Ingeburg Thomsen war auch nicht so großartig, wie ich mir damals nach dem Konzert in Hamburg gedacht hatte. Sie war im Schulchor gewesen und war dort fast für alle Tonlagen gut. In Hamburg war sie im Umfeld von Abbi Hübner bekannt geworden, mit dem sie auch Cake walking Babies from Home und Jelly Bean Blues aufgenommen hat (auf Hamburger Jazz Szene Vol. 2). Aber der traditional jazz, auch ➱Zickenjazz genannt, schien langsam außer Mode zu kommen. Und so wandelte sich Ingeburg Thomsen zu einer der ersten Rock Ladies, die auch Namen wie Rock Röhren und Rock Miezen hatten. Inga Rumpf ist wahrscheinlich die bekannteste aus dieser Zeit, aber es gab natürlich noch andere, wie dieser ➱Artikel im Spiegel von Siegfried Schmidt-Joos (einem der besten Kenner der Szene) zeigt. Da war noch Caro (Josée) Tolenaar (die sieht hier aus wie das Titelbild vom ➱Twen), Ulla Meinecke oder Jutta Weinhold, die haben heute alle Wikipedia Artikel. Ingeburg Thomsen hat keinen.
Aber sie hat offensichtlich noch Fans. An der Pinnwand der Seite Swinging Hamburg fand ich folgende, auf den Oktober des Jahres datierte, Notiz: Wo ist Ingeburg Thomsen? Hallo, ich suche seit Jahren nach Informationen über die Sängerin Ingeburg Thomsen. Sie ist maßgeblich daran schuld, dass ich mich als 18-Jähriger Anfang der 70-er-Jahre dem Jazz zugewandt habe. Leider gibt's im Internet so gut wie keinen aktuellen Hinweis auf diese großartige Sängerin. Selbst zahlreiche Jazzer, die mit ihr früher zu tun hatten (Abbi Hübner, Banjomeyer ...) konnten mir nicht weiterhelfen. Weiß jemand, ob sie noch auftritt? Wenn ja, über welche Agentur kann man mit ihr Kontakt aufnehmen? Vielen Dank für jeden Hinweis! Erwin X., Jazzpianist.
Ich bin ja froh, dass ich die CD Love me or leave damals gefunden hatte. Die Sängerin hatte viele bekannte Namen in der Combo, wie Volker Reckeweg, Peter Weber und Peter (Banjo) Meyer. Die CD hat mich im Grabbelkasten eines inzwischen untergegangen Ladens einen Euro gekostet. Wenig später traf ich eine Bekannte, die, als sie die CD sah, beinahe Tränen in die Augen kriegte. Sie gestand mir, dass sie früher einmal vor dem bürgerlichen Leben ein Groupie von Jazzbands gewesen sei und dass sie mit Ingeburg Thomsen befreundet gewesen sei. Erzählte mir auch Dinge über das Leben on the road, die ich leider nicht weitergeben kann. Ich bin sofort zu dem Laden zurück und habe für sie auch noch eine CD gekauft.
Ingeburg Thomsen hat kleine Filmauftritte, sie ist in dem Udo Lindenberg Film Panische Zeiten (1980) und in Hans C. Blumenbergs Tausend Augen (1984) zu sehen. Sie kommt auch in einem Film vor, in dem sie nicht zu sehen ist. In Peter F. Bringmanns Die Heartbreakers kann man sie nur hören, nicht sehen. Heute dreht Bringmann ja Filme für Serien wie Tatort, Ein starkes Team und Wilsberg, die ja immerhin eine gewisse Qualität haben. Aber als er noch Jungfilmer war, da hat er richtig gute Filme gedreht. Wie Der Tag, an dem Elvis nach Bremerhaven kam, Theo gegen den Rest der Welt und Die Heartbreakers. Die Kleine da vorne kennen Sie, die spielt heute eine Polizistin in Großstadtrevier. In diesem Film ist die damals sechzehnjährige Maria Ketikidou die Sängerin Lisa, die so gerne in die Band will. Aber Maria Ketikidou singt im Film nur zum Playback, die Stimme kommt von Ingeburg Thomsen. Sie können sie ➱hier mit Bring it on home to me hören.
Rock'n Roll I gave you the best years of my life, sang Kevin Johnson 1973. Da hatte Ingeburg Thomsen schon in der deutschen Version des Musicals Hair gesungen. Und (an der Seite von Donna Summer, die unter dem Künstlernamen Gayn Pierre auftrat) in Ich bin ich (1970), der deutschen Version von The me nobody knows. 1975 kam ihr erstes Soloalbum Love me or leave.
Acht Jahre später wagte sie mit der LP Weiße Sklavin den Sprung in die Avantgarde. Der Musikexpress war in seiner Besprechung etwas unentschlossen, sprach von das Ergebnis wirkt eher kontrovers, suchend. Eins hat Ingeburg Thomsen ganz sicher: Mutterwitz und Herz - und natürlich Mut. Der letzte Satz der Rezension lautete: Ingeburg Thomsen kann singen, mehr noch, sie kann eingefahrene Bahnen verlassen, ohne ins Schleudern zu geraten. Ich konnte mit der Platte damals nichts anfangen, ihre Cover Version von Friedrich Hollaenders Eine kleine Sehnsucht fand ich nett, aber der Rest, zwischen Rap und Sprechgesang, ich weiß nicht. Da kann ich nur dem Musikexpress beipflichten, der über die Songs sagte: Andere wieder verlieren sich in der eigenwilligen Dramaturgie der Musik, bei der ich stellenweise etwas Melodie vermisse. Da geht die Spannung etwas verloren. Aber für 1975 war dies Avantgarde, und wahrscheinlich gibt es irgendeine Szene, wo das auch heute noch gut ankäme.
Ingeburg Thomsen taucht für kurze Zeit bei verschiedenen Bands auf. Mal ist sie mit Gottfried Böttger, Rolf Klingelhöfer und Peter 'Banjo' Meyer (auf dessen Doppel CD Forty Years on Stage sie auch zu hören ist) bei den Hamburg Allstars. Mal singt sie bei dieser ➱Band mit dem schrägen Namen (hätte ➱Rudolf Schock darüber lächeln können?) Rudolf Rock und die Schocker. Und bei Udo Lindenberg, den Wolf Biermann damals das Fettauge in der westdeutschen Wassersuppe nannte. Sie sang auch mal mit der Red Onion Jazz Company. Mit der sie die LP Dauerbrenner up to date aufgenommen hat. Irgendwann verliert sich ihre Spur, mehr weiß ich nicht über sie. In dem Lexikon, in dem beinahe alle Hamburger Jazzer zu finden sind, ist sie nicht drin. Aber sie ist natürlich in dem Riesenpaket, der 18 CD Box (mit beinahe 400 Titeln) Swinging Hamburg - von 1946 bis Heute auf zwei CDs mit dabei. Man bekommt beim Kauf der Box auch noch ein 300-seitiges Buch dazu. Das gibt die beste Übersicht über die Hamburger Szene (wenn auch der Index etwas übersichtlicher sein könnte). Und ist natürlich Nostalgie pur.
Und wir hören zum Schluss noch eben ➱hier in Lisa's Song (aus den Heartbreakers) hinein.