Sonntag, 26. Dezember 2021

Tante Aline

Die Bremer Kunsthalle zeigte in diesem Sommer eine erstaunliche Ausstellung, die den Titel Mit den Augen riechen: Geruchsbilder seit der Renaissance hatte. In der Ausstellung war auch dieses Bild einer Gemüseverkäuferin zu sehen, solche Bilder sieht man selten. Ich wusste sofort, von wem das Bild war, weil ich von der Malerin schon mal ein anderes Bild gesehen hatte, das auch eine Verkäuferin zeigte. Es zierte den Katalog einer Ausstellung in Lilienthal 2016, die Hanseatische Malerinnen um 1900: Wie sie die Welt sahen hieß. Auf dieses Bild einer Fischverkäuferin aus dem Jahre 1887 komme ich gleich.

Die Malerin heißt Aline von Kapff, sie kam aus einer sehr reichen Bremer Familie. Den Reichtum zeigt dieses Haus in Schwachhausen, das 1863 als Sommerhaus im englischen Tudorstil erbaut worden war; ein Stadthaus, das Heinrich Müller entworfen hatte, besaß man natürlich auch. Damals war Schwachhausen noch überwiegend ländlich, wovon Bürgerpark und Stadtwald vielleicht die Reste sind.

Nach dem Tode ihrer Eltern wird Aline von Kapff in die Villa in Schwachhausen ziehen, in der Villa daneben wird eines Tages der Senator Bierman wohnen. In das elterliche Haus in der Wachtstraße (das ist das große Haus links neben der Weserbrücke) wird die Familie von Paula Becker-Modersohn einziehen. Mit ihr wird die Malerin und Kunstmäzenin von Kapff befreundet sein. Das Haus in der Wachtstraße ist deshalb so gewaltig, weil darin auch noch die Weinhandlung der Familie untergebracht ist. Denn mit dem Weinimport ist die Familie seit 1692 reich geworden. Und mit dem Wein ist die Firma Ludwig von Kapff heute immer noch im Geschäft, auch wenn es jetzt eher ein Onlinegeschäft ist. Aber eine Filiale in Schwachhausen hat man natürlich. Obgleich der Bremer da nicht kauft, der kauft sich seinen Rotwein bei Reidemeister & Ulrichs oder im Ratskeller. Da darf man dann auch mal mit dem Auto von hinten ans Ratshaus heranfahren, um den Wein einzuladen. Das ist sonst streng verboten, aber der Ratskellerwein macht es möglich.

Alle Bremer Weinhändler hatten Dependancen in Bordeaux, ob das die von Kapff waren, Louis Eduard Ichon, Conrad Wilhelmi oder Albert Diedrich Finke, der der Schwiegervater des Dichters Klaus Groth war. Von ihren repräsentativen Bauten in Bremen ist nichts übriggeblieben. Das Haus der von Kapff neben der Weserbrücke wurde 1944 durch Bomben zerstört, die Villa in Schwachhausen wurde in den 1960er Jahren abgerissen. Wie der Finkenhof in der Weserstraße oder das Haus von Wilhelmi am Domshof. Ein Haus eines Weinhändlers aber steht immer noch, das ist das Palais des Hamburger Weinhändlers Daniel Christoph Meyer in Bordeaux. An dem eindrucksvollen klassizistischen Bau ist eine kleine Tafel angebracht: Ici vecut le poete allemand Hölderlin en 1802.

Aline von Kapff (hier auf einem Selbstportrait von 1890) hat ihren ersten Zeichenunterricht in Bremen von Amalie Murtfeldt erhalten, danach hat sie in München studiert, das hatte ihr Amalie Murtfeldt empfohlen. Von dieser Bremer Malerin, die eine Schülerin von Thomas Couture war, bietet Googles Bilderflut leider wenig an, aber sie war eine sehr gute Portraitistin. Zum Studium nach München war Aline von Kapff mit einer Anstandsdame gereist, das tat man damals so. Auch Ida Gerhardi kam mit einer Begleitung nach Paris, die gesellschaftliche Stellung verlangte das damals von jungen Damen. In Paris war der Belgier Alfred Stevens ihr Lehrer, ihre Bilder kann sie in Pariser Ausstellungen zeigen. Oder wie die Bremer Nachrichten nach ihrem Tod so schön schreiben, dass ihre Bilder wiederholt die strenge Schwelle des Salons der jährlichen großen Aussstellung überschritten.

Nach zahlreichen Bildungsreisen durch Europa und Nordafrika kehrt die Malerin nach Bremen zurück. Sie lässt die riesige Villa in Schwachhausen umbauen (und nebenan noch ein kleines Haus für ihre liebste und älteste Freundin bauen) und widmet sich ihrem neuen Leben. Das aus Mäzenatentum, sozialem Engagement und gesellschaftlichem Leben besteht. Unter anderem hat sie einen Gast, der 1902 seiner Mutter schreibt: dort bin ich Gast bei einer alten Dame und Kunstfreundin Frl. Aline von Kapff, die ein entzückendes kleines Palais mit schönem Park besitzt, – so daß es da gar nicht so übel zu wohnen ist. Der Gast heißt Rilke, aber das Fräulein von Kapff ist nicht unbedingt eine alte Dame (sie wird dreiundneunzig werden), sie ist damals noch keine sechzig. Diese Dame hier ist jetzt häufig Gast in Schwachhausen. Es ist Magdalena Pauli, die Gattin des Direktors der Bremer Kunsthalle, die mit Gleichgesinnten eine Vereinigung namens die Goldene Wolke ins Leben gerufen hatte. 

Ein halbes Jahrhundert später wird sie mit ihrem Buch Die goldene Wolke: Eine verklungene Bremer Melodie an die Vereinigung junger Bremer Kaufleute, Juristen und Schriftsteller erinnern, die um die Jahrhundertwende das geistige Niveau der Gesellschaft heben wollten. Rudolf Alexander Schröder (für sie damals noch Rudi), sein Cousin Alfred von Heymel und ihr Ehemann Gustav Pauli bilden die Kernzelle der Goldenen Wolke. Ständige Gäste werden Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Eberhard von Bodenhausen und Harry Graf Kessler sein. Dies ist das Bremer Äquivalent zu den Souls, der Gruppe um Duff Cooper und Lady Diana Manners oder der späteren Brideshead Generation. Und sicherlich ein höherer Beitrag zur Kultur als Bremens selbsternanntes Kunstgenie Arthur Fitger (der hier schon einmal auftauchte). Den erwähnt man in diesen Kreisen überhaupt nicht mehr, man hat sich eher den Worpswedern zugewandt.

Aline von Kapffs Nichte, Agnes von Kapff, in deren Elternhaus am Osterdeich die ersten Leseabende stattfanden, hatte ihrer Tante die intellektuelle Schickeria sozusagen ins Haus geschleppt. Die Abende bei ihrer Tante, unser aller Tante, Aline v. Kapff, der großen Gönnerin bremischen Zuschnitts, vereinten Kunst und Gesellschaft auf bezaubernde Art, schreibt Magda Pauli, die unter dem Pseudonym Marga Berck in ihrem Roman Sommer in Lesmona im Jahre 1951 die Welt der Bremer Geld- und Geistaristokratie noch einmal heraufbeschwören wird. Agnes von Kapff, hier im Alter von neunzehn Jahren von Gottfried Hofer (der auch Otto Gildemeister gemalt hatte) portraitiert, war eine Zierde dieser Gesellschaft. Sie war aber auch eine begeisterte Golfspielerin, die 1901 in Fanø als erste deutsche Frau die Internationale Golfmeisterschaft von Dänemark gewann.

Gesellschaftliches Leben und die Vielzahl der Tätigkeiten in karitativen Vereinen und Stiftungen halten Aline von Kapff vom Malen ab. Eigentlich malt sie überhaupt nicht mehr. So wird ihr Hauptwerk wahrscheinlich diese wunderbare junge Fischverkäuferin aus dem Jahr 1887 bleiben. Sie hatte es in ihrem Testament der Kunsthalle Bremen vermacht. 

Kunsthistoriker sehen in dem Bild eine Nähe zu der Bar in den Folies-Bergère von Manet, der übrigens auch gerne Stilleben mit toten Fischen malte. Das tat Aline von Kapff auch. Fische seien ihr Bestes, da sie aber langsam malte, hätten die Fische während der Arbeit angefangen zu faulen, und so habe sie ihrer feinen Nase wegen das Malen aufgeben müssen, kann man in der Autobiographie des Bremer Senators Nebelthau lesen. Das Bild mit der blonden Fischverkäuferin könnte man altmeisterlich nennen, sie bleibt in ihrer Malerei traditionell. Sie gab nicht nur die Fischmalerei auf, sie gab die Malerei überhaupt auf. Etwas, worauf Rudolf Alexander Schröder in seiner Würdigung zu ihrem neunzigsten Geburtstag anspielte, wenn er sagte, daß ihr das 'gelebte' Leben im Grunde eine wichtigere und nähere Herzensangelegenheit war als das 'gemalte'.

Aber die Malerin, die als junge Frau mit einem Hochrad durch Bremen geradelt war, konnte auch anders, wie dieses Bild zeigt, das sie auf einer ihren Italienreisen malt. Das schönste Portrait der erstaunlichen Frau verdanken wir dem Bremer Architekten Fritz Schumacher, in dessen Lebenserinnerungen wir lesen können: Aline von Kapff war eine Erscheinung von großer Anmut, die, je älter sie wurde, womöglich noch zunahm. Sie war auch viel auswärts, aber dann reiste sie nicht herum, sondern residierte in Paris oder München. Als sie nach Bremen in ihr schloßartiges Heim für dauernd zurückkehrte, brachte sie zur Belebung der Zungengymnastik ihrer lieben Landsleute einen jungen Tiroler Maler, den sie hatte studieren lassen, aus München mit. Das Erstaunen der Stadt überwand sie schnell, ließ ihren Maler halb Bremen porträtieren, das schönste Mädchen der Gesellschaft heiraten, und wurde selbst Mittelpunkt des rellen Lebens: kein 'Bazar' war ohne sie möglich, kein berühmter Mann hielt einen Vortrag, ohne bei ihr zu wohnen, und welchen Freundeskreis sie sich geschaffen hatte, konnte man an jedem Neujahrstag feststellen; der wurde nämlich mit einem Fest in ihrem Hause gefeiert, das wohl an hundert Personen, alte und junge, bei ihr vereinte. 

An diesem Fest hielt sie auch noch als Achtzigjährige fest, als sie längst in der Inflation ihr großes Vermögen verloren hatte und in ein kleines bescheidenes Haus gezogen war, das sie neben ihrem Schloß einstmals für eine alte Freundin hatte erbauen lassen. Die Schar der Gäste wurde durch diesen Wandel der Umgebung nicht berührt, man saß auf den Treppen und auf den Betten und amüsierte sich herrlich. Für alle diese Menschen war sie 'Tante Aline', aber für einige Auserwählte - und dazu gehörte unser Haus - war sie, obgleich keinerlei Verwandtschaft bestand, eine so gute mütterlich-warmherzige Tante, daß kein gemeinsames Blut es hätte steigern können. Im Lauf der Zeit wurde sie eine so bekannte Figur in Bremen, daß man am Bahnhof jeden beliebigen Kutscher fragen konnte: 'Ist Fräulein von Kapff hier schon vorbeigekommen?', und wenn es dann hieß: 'Nee, sei is noch to Huus', wußte man, wo man sie zu suchen hatte. 

Es gibt nicht so viel Literatur über die Bremer Malerin und Mäzenin, die zu einer kulturellen Institution ihrer Heimatstadt geworden war. Hannelore Cyrus hat in ihrem Buch 'Denn ich will aus mir machen das Feinste...': Malerinnen und Schriftstellerinnen im 19. Jahrhundert in Bremen ein Kapitel über Aline von Kapff. In dem Ausstellungskatalog des Focke Museums Kunst und Bürgerglanz in Bremen wird sie natürlich auch erwähnt. Ute Domdeys Artikel aus Frauen Geschichte(n), Biografien und FrauenOrte aus Bremen und Bremerhaven findet sich im Internet

Samstag, 30. Oktober 2021

als Weib wirklich ungeheures Talent

Das ist die englische Künstlerin Rebecca Salter. Sie kann RA hinter ihren Namen schreiben, weil sie ein Mitglied der Royal Academy ist. Und nicht nur das, seit zwei Jahren ist sie die Präsidentin der Royal Academy. Das hat es in den zweieinhalb Jahrhunderten der Geschichte der Institution noch nicht gegeben. Frauen, die Mitglieder der Royal Academy waren, die gab es vorher allerdings schon einmal.

Zum Beispiel sie hier. Mit siebenundzwanzig schon Mitglied der gerade gegründeten Royal Academy, fünf Jahre zuvor war sie schon Ehrenmitglied der Akademie von Bologna geworden. Sie ist die berühmteste Malerin ihrer Zeit. Sie ist nicht nur eine Malerin, die die Welt bewundert, sie hat auch eine schöne Singstimme. Eigentlich wollte sie Sängerin werden. Vielleicht. Auf dem ersten Selbstportrait, das sie mit zwölf Jahren malt, hält sie Notenblätter in der Hand. Sie wird von Männern bewundert, aber sie findet nicht den richtigen Mann. Sie schreibt an den jungen Goethe:

Mir träumte vor ein paar Nächten, ich hätte Briefe von Ihnen empfangen, und war getröstet und sagte, es ist gut, dass er schreibt, sonst wär ich halb aus Wehmut gestorben. Mich vergnügt, zu wissen, dass Sie wohl sind, der Himmel erhalte Sie immer soGoethe, dem das Bild, das sie von ihm malt, überhaupt nicht gefiel, schreibt an Charlotte von Stein: Sie ist eine treffliche, zarte, kluge, gute Frau, meine beste Bekanntschaft hier in Rom. Und sagt an anderer Stelle: Sie hat ein unglaubliches und als Weib wirklich ungeheures Talent. Und 1789 schreibt er seiner Frau Christiane: Was mich in diesen letzten Wochen auf eine sonderbare Weise, wenn ich so sagen darf, gereinigt u. veredelt hat, ist der Angelika Freundschaft. O daß ich so viel Zeit in Rom verloren u. mich gequält habe, ohne diese zarte u. edle Seele, die so schüchtern u. zurückgezogen, wie eine himmlische Erscheinung ist, näher kennen zu lernen, […] vielleicht die kultivierteste Frau in Europa. Unter dem Titel Mir träumte vor ein paar Nächten, ich hätte Briefe von Ihnen empfangen hat der Libelle Verlag in Lengwil vor zwanzig Jahren ihre Briefe herausgebracht. In den Originalsprachen; englisch, deutsch und französisch.

Sie wissen schon, dass ich von Angelika Kauffmann rede, die heute vor zweihundertachtzig Jahren geboren wurde. Über die John Flaxman sagte: She was of her time and the time was made for her. Und der dänische Legationssecretär in London, Graf von Schönborn, schreibt in einem Brief an Klopstock: Ein Kupferstecher hier, der fast nichts als ihre Gemählde sticht, sagte mir einmahl, the whole world is angelicamad! Ihre Freunde verehrten sie als die zehnte Muse Roms, aber diese Muse ist auch geschäftstüchtig. Ihre Bilder werden nachgestochen, Szenen aus ihren Bildern wandern auf Porzellangeschirr, eine Kommerzialisierung ihrer Kunst durch Merchandise Artikel. Weil die Welt nun mal angelicamad ist. Angelika Kauffmann: Künstlerin, Powerfrau, Influencerin ist der Titel der neuesten Ausstellung.

Angelika Kauffmann war nicht die einzige Frau unter den vierunddreißig Gründungsmitgliedern der Royal Academy. Da war noch Mary Moser, die sich auf die Blumenmalerei spezialisiert hatte. Für länger als ein Jahrhundert werden diese beiden Frauen die einzigen weiblichen Mitglieder der Royal Academy sein. Vier Jahre nach der Gründung malt Johann Zoffany die Royal Academy bei der Arbeit, der König kauft ihm das Bild sofort ab. Nicht alle Gründungsmitglieder sind auf dem Bild, Thomas Gainsborough fehlt, ich weiß nicht weshalb. 

Und die beiden Frauen suchen wir auch vergeblich. Sie sind zwar da, aber nur als Portraits an der Wand. Denn schließlich sind zwei nackte Männer, die den Künstlern Modell stehen sollen, im Raum. Da können Frauen nicht dabei sein, das verstösst gegen das decorum. Das wird noch für über hundert Jahre Frauen vom Besuch von Kunstschulen ausschließen. Es sind wenig nackte Männer im Werk von Angelika Kauffmann zu sehen. Und wenn sie nackt sind, dann sehen sie so aus. Das decorum ist etwas, das dem Neoklassizismus eigen ist, wozu reisen die Gentlemen jetzt alle nach Rom? Das Bild Zoffanys beschreibt kein reales Ereignis, er hat sich das alles so ausgedacht. Aber witzig bleibt das doch mit den Damen an der Wand.

Angelika Kauffmann hat von 1772 bis in die 1790er Jahre immer wieder in der Royal Academy ihre Bilder ausgestellt. Es gab hier vor zehn Jahren schon einmal einen Post Angelika Kauffmann, den stelle ich heute in leichter Bearbeitung noch einmal ein. Dies Portrait von Johann Joachim Winckelmann hat sie mit zweiundzwanzig Jahren gemalt, es machte sie, immer wieder nachgestochen, in ganz Europa bekannt. Sie malt den homme des lettres im deshabillé, ohne Perücke, nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Die Oberschicht gibt sich in der Mode des 18. Jahrhunderts gerne lässig, schließlich lebt man im Zeitalter der Empfindsamkeit, da stört ein steifer Kragen.

Das Bild hier ist mit Liebe gezeichnet. Die Malerin Angelika Kauffmann ist gerade Ehrenmitglied der Accademia Clementina di Bologna geworden und hat eine Woche später das Diplom der Accademia del Disegno erhalten. Sie ist zweiundzwanzig. Sie hat gerade in Rom diesen hübschen amerikanischen Quäker namens Benjamin West getroffen. Er sieht mit den Klamotten ein bisschen aus wie William Shakespeare. Kunsthistoriker nennen das einen Van Dyke suit, was er da trägt. Ähnliche Kleidung findet in dieser Zeit auch auf den Bildern der beiden führenden Portraisten in Italien, Pompeo Batoni und Anton Raphael Mengs (dem Lehrer von Benjamin West). Dieser Van Dyke suit findet sich natürlich auch bei Gainsboroughs The Blue Boy und in der Verfilmung von Little Lord Fauntleroy. Er wird später von Dandies immer mal wieder aus der Mottenkiste der Mode gezogen werden, Oscar Wilde hatte auch mal so etwas getragen.

Der junge Amerikaner Benjamin West hat gerade eine schwere Erkrankung überstanden, ein rheumatisches Fieber, das seine Beine lähmte. Aber der berühmteste italienische Chirurg Dr Angelo Nannoni konnte ihm helfen. An Nannoni war West durch die Empfehlung von dem Diplomaten und Kunstsammler Sir Horace Mann geraten. Noch hat die amerikanische Revolution nicht stattgefunden, noch ist West ein Engländer, und die Engländer in Italien helfen einander. Italien ist voller Engländer, Kunstsammlern und Gentlemen auf ihrer Grand Tour. Wenn Benjamin West Italien im nächsten Jahr verlässt, wird er nach London gehen und für den Rest seines Lebens in England bleiben und noch Präsident der Royal Academy werden. Zuvor hat er natürlich noch Angelika Kauffmann portraitiert.

Er wird später sagen, dass er ihr den ersten Unterricht in the principles of composition, the importance of outline, and likewise the proper combinations and mixtures of colours gegeben habe. Aber das kann nicht so ganz stimmen, Angelika Kauffmann stand zwar erst am Anfang ihrer Karriere und war mit ihrem Vater nach Italien gekommen, um sich zu vervollkommnen, aber malen konnte sie schon. Obgleich sie sich damals eben noch nicht sicher war, ob sie wirklich eine Malerin werden sollte. Sie hatte diese schöne Stimme und liebäugelte noch mit einer Karriere als Opernsängerin.

Die beiden sollen damals schwer ineinander verliebt gewesen sein. Hat Charles Willson Peale gesagt (der eines Tages seine Tochter Angelica Kauffman Peale nennen wird), doch der hat West erst vier Jahre nach dem Zusammentreffen der beiden kennengelernt. Hat Benjamin West dem jüngeren Peale diese Geschichte erzählt? Wie immer es sei, aus der Romanze wird nichts, schließlich hat West noch seine Verlobte Betsy Shewell drüben in Amerika. Irgendwie scheinen es die Zeitgenossen, vor allem die zeitgenössischen Maler, darauf angelegt zu haben, die junge Schweizerin (hier ein Portrait von Nathaniel Dance) als ein Flittchen auf Männerjagd darzustellen.

She was ridiculously fond of displaying her person and being admired, for which purpose she one evening took her station in one of the most conspicuuous boxes of the theatre accompanied by Nathaniel Dance and another artist, both of whom as well as many others were desperately enamoured of her, while she was standing between her two beaux, and finding an arm of each most longingly embracing her waist, she contrived, whilst her arms were folded before her on the front of the box over which she was leaning, to squeeze the hand of both, so that each lover concluded himself beyond all doubt the man of her choice, schreibt John Thomas Smith, der zu der Zeit in Italien ist und später bei West studiert. Aber Smith (in den sie angeblich auch einmal verliebt gewesen sein soll) hat eine schnelle und böse Zunge, er ist zwar ein Kleinmeister der Verleumdung, aber nicht unbedingt der zuverlässigste Zeitzeuge.

Und dann ist da noch die Geschichte mit der angeblichen Verlobung mit Nathaniel Dance, die sie gelöst haben soll, als sie Joshua Reynolds kennenlernte (den sie hier auch in einem Van Dyke suit malt). Das sagt Joseph Farington, allerdings beginnt er sein berühmtes Diary erst im Jahre 1793, alles was die Klatschbase der Kunst da sagt, ist aus zweiter, meist dritter Hand. In einem Brief des schottischen Abbé Peter Grant, der mit vielen der englischen Romreisenden bekannt ist, heißt es 1765: Mr Dance if you remember him made strong love to her the whole of last winter, and was really so far gone in his tender passion that he was truly to be pitied, but all his address was not able to make the smallest impression upon her heart her whole raptures not having any other object than that of excelling in her profession. Das klingt nicht gerade nach bevorstehender Verlobung in London.

Vergessen wir bei all dem nicht: dies ist das Zeitalter der emphatischen Liebesschwüre, The Man of Feeling ist nicht nur ein Romantitel, es ist ein Programm für eine ganze Epoche, das age of sensibility. Natürlich kann man Selbstmord aus Liebe begehen, Goethes Werther wird dafür berühmt, die meisten behelfen sich aber mit sentimentalen Klagen. Und nachträglich bösem Klatsch. Gentlemen sind das nicht, das sind Künstler. Was Arnold Böcklin über seine Malerkollegen sagte, gilt sicher auch für die vielen liebeskranken Herren im London des 18. Jahrhunderts: Sie sind Streber, Affairisten, Jongleure: der eine will reich, der andere gesellschaftlich angesehen, der dritte berühmt oder berüchtigt, der vierte Akademiedirektor werden. Keiner denkt daran, ruhig ohne rechts und links zu blicken, das, was in ihm ist, auszubilden. Der Höhepunkt der Verleumdungsaktion ist vielleicht dieses Bild von Nathaniel Hone, das Joshua Reynolds als eine Art Jahrmarktsmagier zeigt. Es ist der Gegenstand eines großen Kunstskandals. Angelika Kauffmann soll eine der tanzenden Nackten auf dem Bild oben links in der Ecke sein. Sie beklagt sich bei der Royal Academy, Hone muss die nackten Damen übermalen.

Es ist schwer für eine selbständige Frau, in dieser Zeit einen geraden Weg zu gehen, ruhig ohne rechts und links zu blicken. So pointiert übertrieben das Buch The obstacle race: the fortunes of women painters and their work von Germaine Greer häufig ist, in vielem kann man ihr bei dem Kapitel über Angelika Kauffmann nur zustimmen. Der größte Fehler ihres Lebens ist ihre heimliche Hochzeit mit dem schwedischen Grafen Frederick de Horn gewesen, einem Heiratsschwindler, der es nur auf ihr Geld abgesehen hat.  Germaine Greer sagt darüber: it simply increased her notoriety and with it her vulnerability. Von nun an werden sich die Gerüchte und Verleumdungen jagen. Jean-Paul Marat wird behaupten, dass er sie verführt habe - es ist ja nur gerecht, dass er in einer Badewanne von einer Frau erstochen wird. Das wäre doch mal ein schönes Thema für die Malerin gewesen, das hätte sie nicht Jacques-Louis David überlassen sollen!

Wir stellen uns die englische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts immer gerne so vor wie auf dem Bild von Mr und Mrs Andrews von Gainsborough. Wir sollten sie uns vielleicht besser so vorstellen, wie sie uns auf den Bildern von William Hogarth entgegentritt: ordinär, lüstern, hinterlistig und verschlagen. Der Lebensweg von Lady Emma Hamilton wäre ein Beispiel dafür. Es ist für Angelika Kauffmann nur von Vorteil, wenn sie nach ihrer Heirat mit dem Maler Antonio Zucchi London verlässt und nach Rom zieht. Der so schwer liebeskranke Nathaniel Dance, der für sein Portrait von James Cook bekannt wird, heiratet eine reiche Witwe, wird Baronet und kauft sich ein großes Landhaus. Und gibt das Malen auf. Er schenkt Gilbert Stuart seine ganzen Malutensilien.

Die Londoner Jahre, die unglückliche Heirat mit dem schwedischen Heiratsschwindler, die ständigen Verleumdungen (wie zum Beispiel die Karikatur The Paintress of Macaronis), haben ihre Spuren hinterlassen. Die Malerin wird sich nicht mehr wirklich weiterentwickeln. Sie wird nicht einsam und verlassen sein wie diese von Theseus verlassene Ariadne. Sie wird mit Goethe befreundet sein, der ihr schreibt Es ist wahr, ich bin mit meinem Geiste so nahe bei Ihnen wie mein eigener Schatten, aber in ihrer Kunst lebt sie von ihrem alten Ruhm. Ihre Begräbnis wird von Antonio Canova zu einem prunkvollen Staatsbegräbnis gestaltet, und man hat sie bis heute nicht vergessen.

Die erste große Angelika Kauffmann Retrospektive fand 1998 in Düsseldorf statt, und da mir mein Freund Götz damals den Katalog aus seiner Heimatstadt mitgebracht hat, bin ich natürlich bestens informiert. Der sehr gute Katalog, den man noch antiquarisch finden kann, wurde von Bettina Baumgärtel herausgegeben, die zuvor mit der Dissertation Angelika Kauffmann (1741-1807): Bedingungen weiblicher Kreativität in der Malerei des 18. Jahrhunderts hervorgetreten war. Ich lese bei Katalogen zuerst immer die Fußnoten, zugegeben eine déformation professionnelle, und so ist mir ein kurioser kleiner Fehler nicht entgangen: Benjamin West war mit keiner Miss Sewel verlobt. Die Frau, die West zwei Jahre nach der Begegnung mit den jungen Angelika heiratete, hieß Elizabeth Shewell.

Seit der Düsseldorfer Ausstellung 1998 hat es in den letzten Jahrzehnten immer wieder Ausstellungen für sie gegeben. Im Angelika Kauffmann Museum Schwarzenberg gibt es eine Dauerausstellung für sie. Dies Selbstbildnis zeigt sie im weißen Kleid der Unschuld hingerissen zwischen den Allegorien der Musik und der Malerei. Sie wird den Weg gehen, den ihr die energische Blonde zeigt. Mit einer Handbewegung nimmt sie Abschied von der Allegorie der Musik, die ihre Entscheidung zu verstehen scheint. Der irische Maler James Barry, der den Tod des General Wolfe so ganz anders gemalt hat als Benjamin West, hat über diese Szene gesagt: Some may say that this is great, since it was executed by a female; but I say that whoever produced such a picture, in whatever age or whatever country, it is great, it is noble, it is sublime! How I envy plaintive Music the squeezes she now receives, the impression seems deeply imprinted on her her - all is feeling, energy and grace! Er musste so etwas sagen, wir sind nun mal im age of sensibility. Das Bild mit der hin und hergerissenen Angelika zwischen den beiden Allegorien ist ihr berühmtestes Bild geworden. Wir wissen nicht, was aus ihr geworden wäre, wäre sie eine Opernsängerin geworden.

Samstag, 4. September 2021

Ingeburg Thomsen

Als ich im Januar ➱hier einen Link zu Janis Joplins Song Summertime machte, dachte ich mir, ich könnte noch diese kleine Geschichte erzählen, die heute da unten steht. Doch dann sagte ich mir, dass ich auch einen eigenen kleinen Post daraus machen könnte, der Summertime heißt. Meine Posts werden ja eh immer zu lang. Ich legte das Ganze erst einmal zur Seite. Allerdings fiel mir dann irgendwann beim Aufräumen von CDs Ingeburg Thomsens Love me or leave me in die Hände, und ich fragte mich, ob die überhaupt noch jemand kennt. Und als ich die CD in den Stapel von CDs zurücksortierte, in dem nur Jazzsängerinnen sind, dachte ich mir: kombiniere das doch beides und mache einen Post draus.

In den sechziger Jahren gibt es in beinahe allen norddeutschen Großstädten eine Musikszene, Hamburg hat die Riverkasematten und den Star Club. Und eines Tages hat der NDR ➱Klaus Wellershaus, den Erfinder der Rockmusik im Radio, wie Heinz Rudolf Kunze ihn in einer ➱Würdigung genannt hat. Sein Nachfolger Peter Urban wird nie an ihn heranreichen, was vielleicht auch daran liegt, dass es später nie wieder so gute Musik gab. Bremen hat die Lila Eule und Radio Bremen mit dem Beat Club und dem Musikladen, darüber habe ich ➱hier schon geschrieben. Und selbst in Schläfrig-Holstein gibt es in Kiel eine ➱Musikszene, von der Folk Szene wie den ➱Beda Folks ganz zu schweigen.

Ich schlage für Gershwins Summertime mal eben eine Seite meiner Bremensien auf, eine Seite aus einem Kapitel, das Moments Musicaux heißt. In dem es um die Klavierstunde, Jazz und Rock'n Roll geht. Natürlich auch um klassische Musik, aber klassische Musik ist damals für Jugendliche nicht so interessant, wenn man im amerikanisch besetzten Bremen jeden Tag AFN und BFBS im Radio hören kann.

Musikunterricht in der Volksschule ist schrecklich. Ständig läuft man Gefahr, nach vorne gerufen zu werden und vorsingen zu müssen. Da kommt man sich vor wie der kleine Charbovari im ersten Kapitel von Madame Bovary. Ich singe leidenschaftlich gern, bin auch immer der einzige, der alle Texte, alle Strophen kann. Aber ich kann nicht singen. Wird auch nach dem Stimmbruch nicht besser. Im Klassenchor stellt man mich in die letzte Reihe. Annegret, der Schwarm aller Zwölfjährigen, kann singen, der Lehrer holt sie immer nach vorne, damit sie uns ein Beispiel gibt. Sie singt You are my sunshine, immer wieder, das ist ihr Paradestück. Eigentlich ist es das Lied, das wir in unseren Köpfen für sie singen: You’ll never know dear, how much I love you. Please, don’t take my sunshine away. Annegret hat einen Herzfehler, und ihre Lippen laufen bläulich an. Ihre Eltern sparen für eine Herzoperation, irgendwo in Deutschland soll es einen Spezialisten geben. Man wird ihn Jahre später finden, alles wird gut. Sie lebt heute in Kalifornien. In meiner Vorstellung bleibt sie die blonde Zwölfjährige mit dem Pagenkopf, die herzzereißend You are my sunshine singt.

Die Mädchen, die wirklich gut singen können, singen in Chören, manche von ihnen noch heute. Aus reiner Liebe zu manchen Frauen geht man zu ihren Konzerten, denn nichts anderes könnte mich dazu bringen, mir im Bremer Dom zwei Stunden lang Bachkantaten anzuhören. Meine ➱Freundin Gu singt nicht, die spielt Violine. Also werde ich zum Groupie des Schulorchesters, in dem sie spielt, ich sitze bei Proben in der letzten Reihe und bewache die Garderobe. Einmal sogar in den heiligen Hallen des Bremer Rathauses, cool hingelümmelt mit meiner Lederjacke ganz hinten im Saal, die Füße auf der Sitzreihe vor mir. Violinkonzerte sind fetziger als hingebungsvoll gesungene Bachkantaten. Ich kann immer noch jedes Violinkonzert mitpfeifen.

Manche der jungen Frauen, die gut singen können, wandern anfangs der sechziger Jahre in die ersten in Norddeutschland entstehenden Jazzbands ab; singen da heimlich, ohne dass ihre Eltern das wissen, Vorläuferinnen von Ingeburg Thomsen, die ich einmal erlebt habe. Die blonde Ute hätte so was tun können, sie ist eine coole, gut aussehende Blondine. Nicht mein Typ, aber ich musste sie zu dem Oberstufenball begleiten. Mein Vater hat mir das aufgetragen, Ute ist die Tochter eines seiner Kollegen. Als der Ball in der Strandlust zu Ende geht, gehen wir noch in die Bar im Keller, wo man aus den Bullaugenfenstern auf die Weser bei Nacht blicken kann. Aber da hockt nur die Säuferclique des Werftbesitzers. Manche von denen sollen eine Flasche Asbach Uralt pro Tag trinken. Dies ist eine Kleinstadt, man kennt sich, es wird viel geredet. Man weiß noch, wer die Nazis waren.

Wir beschließen, das Weite zu suchen, als die Säufer Ausziehen, ausziehen grölen. Ute geht zum Klavier, flüstert dem Pianisten etwas zu. Und dann zieht sie aufreizend langsam ihren weißen Regenmantel aus. Ich weiß nicht, was sie vorhat. In der Bar mit den Bullaugenfenstern ist es plötzlich ganz still. Ute wirft ihren Regenmantel auf den Flügel, stützt sich mit einer Hand auf und singt: Summertime and the living is easy, fish are jumping, and the cotton is high. Das ist schon etwas anderes als Die Liebe ist ein seltsames Spiel von Connie Francis, das jetzt überall aus dem Radio plärrt. Der Werftbesitzer und seine Säuferclique sitzen sprachlos mit offenen Mündern da. Dann nimmt Ute mit einer lässigen Bewegung ihren Mantel und rauscht an der crème de la crème der Vegesacker Gesellschaft vorbei. Es gibt keinen Beifall, aber auch keine cat calls. Ich folge ihr und spendiere der Herrenrunde meinen besten John Wayne-Blick. Einer guckt etwas betreten. Ist es ihm plötzlich klar geworden, dass dies seine Tochter Annegret hätte sein können, die so schön You are my sunshine sang? Dem filmreifen Auftritt folgt ein denouément, der letzte Bus ist weg. Ich muss Ute fünf Kilometer durch die Nacht begleiten. Was mir (einschließlich der fünf Kilometer zurück) nicht so schwer fällt, aber ihr: neue high heels, schwarzlackiert, eine Nummer zu groß. Ich gebe ihr meine beiden weißen Taschentücher (junge Dandies haben damals immer zwei saubere weiße Taschentücher dabei) für die Hacken, so muss es gehen. Ute ist keine Jazzsängerin geworden, obgleich sie das Zeug dazu gehabt hätte, wir sind zu sehr Teil dieser großbürgerlich-kleinbürgerlichen Welt von Bremen-Nord, als dass wir aus ihr ausbrechen würden.

Mir bleibt eine lebenslange Bewunderung für Frauen, die mit Bass und Klavier im Hintergrund ein Mikrophon in die Hand nehmen. Oder gegen ein großes Orchester gegenan singen. Wie Ottilie Patterson, die ich mit Chris Barber auf einer Platte habe. Nicht jeder von uns hat die Chance wie Frank O’Hara, Lady Day im Five Spot zu hören while she whispered a song along the keyboard/to Mel Waldron and everyone and I stopped breathing. Inzwischen gibt es keine Platten mehr, nur noch CDs. Die kann man zu kleinen Türmen stapeln. Mein Stapel von Jazz Singers erreicht schon die Höhe einer Sängerin, und überall in den Clubs tauchen immer wieder Blondinen im kleinen Schwarzen auf, vielversprechende Talente. Irgendwie scheint das die einzige Spezies auf der Welt zu sein, über deren Fortbestand man sich keine Sorgen machen muss.

Nicht aus allen wird etwas. Die Karriere von Ingeburg Thomsen war auch nicht so großartig, wie ich mir damals nach dem Konzert in Hamburg gedacht hatte. Sie war im Schulchor gewesen und war dort fast für alle Tonlagen gut. In Hamburg war sie im Umfeld von Abbi Hübner bekannt geworden, mit dem sie auch Cake walking Babies from Home und Jelly Bean Blues aufgenommen hat (auf Hamburger Jazz Szene Vol. 2). Aber der traditional jazz, auch ➱Zickenjazz genannt, schien langsam außer Mode zu kommen. Und so wandelte sich Ingeburg Thomsen zu einer der ersten Rock Ladies, die auch Namen wie Rock Röhren und Rock Miezen hatten. Inga Rumpf ist wahrscheinlich die bekannteste aus dieser Zeit, aber es gab natürlich noch andere, wie dieser ➱Artikel im Spiegel von Siegfried Schmidt-Joos (einem der besten Kenner der Szene) zeigt. Da war noch Caro (Josée) Tolenaar (die sieht hier aus wie das Titelbild vom ➱Twen), Ulla Meinecke oder Jutta Weinhold, die haben heute alle Wikipedia Artikel. Ingeburg Thomsen hat keinen.

Aber sie hat offensichtlich noch Fans. An der Pinnwand der Seite Swinging Hamburg fand ich folgende, auf den Oktober des Jahres datierte, Notiz: Wo ist Ingeburg Thomsen? Hallo, ich suche seit Jahren nach Informationen über die Sängerin Ingeburg Thomsen. Sie ist maßgeblich daran schuld, dass ich mich als 18-Jähriger Anfang der 70-er-Jahre dem Jazz zugewandt habe. Leider gibt's im Internet so gut wie keinen aktuellen Hinweis auf diese großartige Sängerin. Selbst zahlreiche Jazzer, die mit ihr früher zu tun hatten (Abbi Hübner, Banjomeyer ...) konnten mir nicht weiterhelfen. Weiß jemand, ob sie noch auftritt? Wenn ja, über welche Agentur kann man mit ihr Kontakt aufnehmen? Vielen Dank für jeden Hinweis! Erwin X., Jazzpianist. 

Ich bin ja froh, dass ich die CD Love me or leave damals gefunden hatte. Die Sängerin hatte viele bekannte Namen in der Combo, wie Volker ReckewegPeter Weber und Peter (Banjo) Meyer. Die CD hat mich im Grabbelkasten eines inzwischen untergegangen Ladens einen Euro gekostet. Wenig später traf ich eine Bekannte, die, als sie die CD sah, beinahe Tränen in die Augen kriegte. Sie gestand mir, dass sie früher einmal vor dem bürgerlichen Leben ein Groupie von Jazzbands gewesen sei und dass sie mit Ingeburg Thomsen befreundet gewesen sei. Erzählte mir auch Dinge über das Leben on the road, die ich leider nicht weitergeben kann. Ich bin sofort zu dem Laden zurück und habe für sie auch noch eine CD gekauft.

Ingeburg Thomsen hat kleine Filmauftritte, sie ist in dem Udo Lindenberg Film Panische Zeiten (1980) und in Hans C. Blumenbergs Tausend Augen (1984) zu sehen. Sie kommt auch in einem Film vor, in dem sie nicht zu sehen ist. In Peter F. Bringmanns Die Heartbreakers kann man sie nur hören, nicht sehen. Heute dreht Bringmann ja Filme für Serien wie TatortEin starkes Team und Wilsberg, die ja immerhin eine gewisse Qualität haben. Aber als er noch Jungfilmer war, da hat er richtig gute Filme gedreht. Wie Der Tag, an dem Elvis nach Bremerhaven kamTheo gegen den Rest der Welt und Die HeartbreakersDie Kleine da vorne kennen Sie, die spielt heute eine Polizistin in Großstadtrevier. In diesem Film ist die damals sechzehnjährige Maria Ketikidou die Sängerin Lisa, die so gerne in die Band will. Aber Maria Ketikidou singt im Film nur zum Playback, die Stimme kommt von Ingeburg Thomsen. Sie können sie ➱hier mit Bring it on home to me hören.

Rock'n Roll I gave you the best years of my life, sang Kevin Johnson 1973. Da hatte Ingeburg Thomsen schon in der deutschen Version des Musicals Hair gesungen. Und (an der Seite von Donna Summer, die unter dem Künstlernamen Gayn Pierre auftrat) in Ich bin ich (1970), der deutschen Version von The me nobody knows. 1975 kam ihr erstes Soloalbum Love me or leave. 

Acht Jahre später wagte sie mit der LP Weiße Sklavin den Sprung in die Avantgarde. Der Musikexpress war in seiner Besprechung etwas unentschlossen, sprach von das Ergebnis wirkt eher kontrovers, suchendEins hat Ingeburg Thomsen ganz sicher: Mutterwitz und Herz - und natürlich Mut. Der letzte Satz der Rezension lautete: Ingeburg Thomsen kann singen, mehr noch, sie kann eingefahrene Bahnen verlassen, ohne ins Schleudern zu geraten. Ich konnte mit der Platte damals nichts anfangen, ihre Cover Version von Friedrich Hollaenders Eine kleine Sehnsucht fand ich nett, aber der Rest, zwischen Rap und Sprechgesang, ich weiß nicht. Da kann ich nur dem Musikexpress beipflichten, der über die Songs sagte: Andere wieder verlieren sich in der eigenwilligen Dramaturgie der Musik, bei der ich stellenweise etwas Melodie vermisse. Da geht die Spannung etwas verloren. Aber für 1975 war dies Avantgarde, und wahrscheinlich gibt es irgendeine Szene, wo das auch heute noch gut ankäme.

Ingeburg Thomsen taucht für kurze Zeit bei verschiedenen Bands auf. Mal ist sie mit Gottfried Böttger, Rolf Klingelhöfer und Peter 'Banjo' Meyer (auf dessen Doppel CD Forty Years on Stage sie auch zu hören ist) bei den Hamburg Allstars. Mal singt sie bei dieser ➱Band mit dem schrägen Namen (hätte ➱Rudolf Schock darüber lächeln können?) Rudolf Rock und die Schocker. Und bei Udo Lindenberg, den Wolf Biermann damals das Fettauge in der westdeutschen Wassersuppe nannte. Sie sang auch mal mit der Red Onion Jazz Company. Mit der sie die LP Dauerbrenner up to date aufgenommen hat. Irgendwann verliert sich ihre Spur, mehr weiß ich nicht über sie. In dem Lexikon, in dem beinahe alle Hamburger Jazzer zu finden sind, ist sie nicht drin. Aber sie ist natürlich in dem Riesenpaket, der 18 CD Box (mit beinahe 400 Titeln) Swinging Hamburg - von 1946 bis Heute auf zwei CDs mit dabei. Man bekommt beim Kauf der Box auch noch ein 300-seitiges Buch dazu. Das gibt die beste Übersicht über die Hamburger Szene (wenn auch der Index etwas übersichtlicher sein könnte). Und ist natürlich Nostalgie pur.

Und wir hören zum Schluss noch eben ➱hier in Lisa's Song (aus den Heartbreakers) hinein.

Dienstag, 31. August 2021

Nachtigallen


Sie nennen dich die Nachtigall
Mit dürftgem Bilderraube,
So süß auch deiner Lieder Schall,
Doch nenn ich dich: die Taube.

Und bist du Rose, wie dus bist,
Seis denn die Alpenrose,
Die, wo sich Schnee und Leben küßt,
Aufglüht aus dunklem Moose.

Du bist nicht Farbe, bist das Licht,
Das Farben erst verkündet,
Das, wenn sein Weiß an Fremdem bricht,
Die bunte Pracht entzündet.

Und spenden sie des Beifalls Lohn
Den Wundern deiner Kehle,
Hier ist nicht Körper, kaum noch Ton,
Ich höre deine Seele.


Das musste Franz Grillparzer ja unbedingt so dichten, auf Jenny Lind, die man die schwedische Nachtigall nannte. Heute (2.11.2010) vor 123 Jahren ist sie gestorben, es gibt keine Tondokumente von ihr, suchen Sie nicht bei Amazon. Nur Wörter, die ihre Sangeskunst beschreiben. Aber natürlich tritt sie im Film auf, 1941 als Ilse Werner. Die kann zwar pfeifen, aber nicht singen, Erna Berger hat die Lieder für sie gesungen. Aber für Millionen Deutsche ist sie damals Jenny Lind. Und die Vorzeigesängerin für die Nazis, ihre ganze Karriere passt zwischen Wunschkonzert und Große Freiheit Nummer Sieben.

Hans Christian Andersen war von der Lind hingerissen. Hat das Märchen von der Nachtigall geschrieben. Das, wo der ganze chinesische Hof auf der Suche nach der so wunderbar singenden Nachtigall ist. Und nur das kleine arme Mädchen in der Küche (diese kleinen armen Mädchen mit Schwefelhölzern oder Fischschwänzen bei Andersen hängen einem ja allmählich zum Hals raus), das weiß, wo die Nachtigall zu finden ist: O Gott, die Nachtigall, die kenne ich gut, ja, wie kann die singen! Jeden Abend habe ich die Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter einige Überbleibsel vom Tische mit nach Hause zu bringen; sie wohnt unten am Strande, und wenn ich dann zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, dann höre ich die Nachtigall singen; es kommt mir dabei das Wasser in die Augen, und es ist gerade, als ob meine Mutter mich küßte! 

Damit ist die Lind gemeint, haben die Leser gesagt, und so ist aus ihr die schwedische Nachtigall geworden. Und die Nachtigall im Märchen, die den Tod hinweg gesungen hatte, als der sich schon auf die kalte Brust des Kaisers legte, sagt dem Kaiser am Schluss: Ich kann nicht nisten und wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und Dir vorsingen, damit Du froh werden könnest und gedankenvoll zugleich. Ich werde von den Glücklichen singen und von denen, die da leiden; ich werde vom Bösen und Guten singen, was rings um Dich her Dir verborgen bleibt. Der kleine Singvogel fliegt weit herum zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach, zu jedem, der weit von Dir und Deinem Hofe entfernt ist. Ich liebe Dein Herz mehr als Deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Ich komme und singe Dir vor! Das hier sind natürlich nicht Jenny Lind und Hans Christian Andersen, das sind Mary Alice Therp und Thorkild Roose, die 1930 in Odense in die Rollen geschlüpft sind.

Ja, l'amour est un oiseau rebelle, niemand kann die Nachtigall besitzen. H.C. Andersen nicht, und viele andere auch nicht. Den Chopin hätte sie gerne zum Ehemann gehabt, sie hat ihn sogar in Paris in seiner Wohnung am Place Vendôme besucht. Aber der will irgendwie nicht. P.T. Barnum hat in Amerika ein Millionenvermögen mit ihr verdient, noch nie hatte es einen solchen Starrummel gegeben. Sie hat auch ganz gut an dem Amerika Gastspiel verdient, aber sie tut mit ihrem Geld nur gute Werke. Unausstehlich edel.

Warum ist sie nicht zickig? Wir sind das aus der Welt der Oper gewöhnt, dass Operndiven schlimme Zicken sind. Wir hätten da eine, Henriette Sontag (oben), die deutsche Nachtigall. Der Maler Carl Blechen hat seine Stelle als Bühnenmaler in Berlin verloren, weil er sich mir ihr gezofft hat. Die Welt ist damals im Sontag Fieber. Fürst Pückler ist in sie verliebt. Goethe ist von ihr hingerissen. Börne ist kritischer. Also das sprachliche Feuerwerk hier über Henriette Sontag in Frankfurt, das muss man einfach gelesen haben.

Es ist jetzt die Zeit der Diven. Spätestens seit Angelica Catalani (links). Oder Maria Malibran. Und Adelina Patti, Thérèse Tietjens oder Christina Nilsson. Wahrscheinlich ist die Sontag gar nicht so gut gewesen, wahrscheinlich wollen wir nur in dem neuen international Diven Zirkus unsere eigene Göttin haben. Und deshalb schreiben Börne und Goethe und Hoffmann von Fallersleben über sie. Ludwig Rellstab sogar einen Roman, Henriette, oder die schöne Sängerin. Heinrich Heine ist da eher skeptisch und sieht das als Modephänomen. Und in dem Romanzero Gedicht 16. Oktober 1849 schreibt er:

Es knallt. Es ist ein Fest vielleicht,
Ein Feuerwerk zur Goethefeier! –
Die Sontag, die dem Grab entsteigt,
Begrüßt Raketenlärm – die alte Leier.


Da ist die Sontag nach 19 Jahren zum ersten Mal wieder auf der Bühne gewesen, hatte sieben Kinder in der Zwischenzeit großgezogen. Jetzt singt sie wieder, sie braucht das Geld. Sie ist dann auf einer Mexiko Tournee an der Cholera gestorben (fünf Jahre vorher war die Catalani in Paris an der Cholera gestorben). Irgendwie haben diese Diven jetzt ein Leben und einen Tod, der wie ein Libretto für eine melodramatische Oper wirkt. Immer wieder kommen sie vom biederen, bürgerlichen Weg der Jenny Lind ab, la traviata. Die Malibran fällt in London auf der Jagd vom Pferd, weigert sich aber, sich behandeln zu lassen. Und steht mit Knochenbrüchen und schwanger weiter auf der Bühne. Ist dann wenig später aber tot.

In unserem Jahrhundert hat es ja eine Vielzahl von Primadonnen gegeben, die den Diven des 19. Jahrhunderts nacheiferten und sich ein melodramatisches Leben inszenierten, die Callas ist nur eine von vielen. Und wenn Anna Netrebko auch noch nicht an die Callas heranreicht, inszeniert sie sich wie eine amerikanische Sängerin namens Madonna. Die heißt zwar nicht Madonna und kann auch nicht singen, aber in der Welt der Selbstinszenierung macht das gar nichts aus. Man kann nur hoffen, dass eine Sängerin mit einer so großen Stimme wie Elīna Garanča diesen Weg nicht geht.

Von dem Zirkus unberührt blieb eine der ganz Großen, die vor drei Wochen gestorben ist, und die die Kritiker la stupenda, die Fabelhafte, genannt haben: Joan Sutherland. Die trotz des Ruhmes und der internationalen Anerkennung immer normal geblieben ist. I'm a mum, sagte sie dem Journalisten des Guardian im Jahre 2002, I never thought of becoming a diva. I just wanted to sing the roles and get on with my work. I used to come to the theatre in a taxi, not in some Rolls-Royce. I didn't have time to do all that silly stuff. Wahrscheinlich hat sie deshalb auch als letztes Lied bei ihrem letzten Auftritt Home, Sweet Home gesungen.

Ich hatte mir vor Wochen überlegt, ob ich sie mit einem kleinen Artikel würdigen sollte, habe es dann aber verworfen. Ich weiß nicht genug über sie. Nicht soviel, wie meine ehemalige Kollegin Iris, die alles über alle Primadonnen wusste. Die schrieb auch für die Opernzeitung orpheus und hatte Joan Sutherland gekannt und eine englische Biographie über Joan Sutherland ins Deutsche übersetzt. Dass ich Opernaufnahmen von Joan Sutherland besitze, ist eigentlich eher ein Zufall. Sie ist mir sozusagen im Doppelpack ins Haus gekommen, weil ich für die kanadische Mezzosopranistin Huguette Tourangeau schwärme. Und Tourangeau und Sutherland in vielen Opern (aber auch bei Händels Messias), die Richard Bonynge dirigierte, nebeneinander auf der Bühne standen. Und sich sängerisch jahrelang wunderbar verstanden. Also zum Beispiel bei der Decca Aufnahme von Maria Stuarda. Aber auch bei Lucia die LammermoorLes HuguenotsLes contes d'Hoffmann und der Fledermaus. Da gibt es für mich auch nach Jahrzehnten nichts Besseres. Und an dieser Stelle gibt es noch eine Diskographie mit weiteren Links.

Wenn ich damals schon nicht über sie geschrieben habe, dann habe ich es doch mit Freude zur Kenntnis genommen, dass einer meiner Leser, der den sehr empfehlenswerten und immer wieder verblüffenden Blog MartininBroda schreibt, die Sangeskunst der prima donna assoluta gewürdigt hat.